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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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sie entweder reden oder sich endgültig abschotten .
    Farias war für Dalmate eingesprungen. Er saß vor der Computertastatur, schwieg jedoch, weil er wusste, dass Mistral das Verhör führen wollte. Doch zuvor verließ Mistral das Büro, ging in den Waschraum und hielt seinen Kopf lange unter kaltes Wasser. Man sah, dass er sich seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr rasiert hatte. Wenn ich müde bin, wächst mein Bart schneller. Eigentlich sollte ich mich rasieren, aber dazu habe ich wirklich keine Lust . Während er sich mit Papierhandtüchern abtrocknete, betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Im Spiegel, der dabei geholfen hatte, den Fall der Spiegelzwillinge und die Frage nach den Spiegelscherben in den Gesichtern der ermordeten Frauen zu lösen. Im Spiegel, in dem sich ein schizophrener Mörder auf keinen Fall sehen wollte. Mistral hingegen musterte sich möglichst objektiv. Er blickte sich in die Augen, um dort zu lesen, was er dachte und fühlte. Noch einmal spritzte er sich kaltes Wasser über Gesicht und Hals und trocknete sich sorgfältig ab. Nun würde er sich Odile Brial vornehmen.
    Auf dem Weg zu Farias’ Büro legte er sich zurecht, was er sagen würde, um das Gespräch in Gang zu bringen. Als er den Raum betrat, kämmte sich Odile Briard gerade mit einer Bürste, die Farias ihr geliehen hatte. Mistral wartete, bis sie damit fertig war. Gedankenverloren stand er am Fenster und sah zu, wie der Morgen über Paris heraufdämmerte. Farias legte die Hände auf die Computertastatur. Mistral drehte sich um, setzte sich Odile gegenüber und räusperte sich.
    Die Frau sah Mistral mit einem spöttischen Lächeln an.
    »Nun, Chef mit dem Totenkopf, kannst du noch? Und wo ist der Seminarist geblieben? Wie viel Uhr ist es? Bestimmt betet er sein Brevier. Oder ist er in der Frühmesse?«
    Da bemerkte sie Mistrals bandagierte Unterarme.
    »Und jetzt bist du auch noch verletzt! Was ist los? Hast du dich beim Grillen verbrannt, während ich in dieser Zelle sitzen musste? Gut gemacht.«
    Mistral ging nicht auf ihre Worte ein.
    »Madame Brial, Sie haben Jean-Pierre manchmal das Gesicht zugedeckt, damit er Ihre Liebhaber nicht sah. Später taten Sie das nicht mehr, sondern ließen zu, dass er Sie beobachtete. Ich glaube, dass Ihr Sohn sich immer in die Arme seiner Mutter gesehnt hat.«
    Es war keine Frage. Mistral äußerte diese Feststellung im Plauderton und redete ganz bewusst von Jean-Pierre und nicht von François. Odile Brial erstarrte. Mistral wartete. Er hatte alle Zeit der Welt. Als die Frau schließlich redete, sprach sie mit einer völlig veränderten Stimme.
    Noch am gleichen Abend berichtete Farias dem verdutzten Sébastien Morin Einzelheiten des Verhörs. »Als der Boss im lockeren Gesprächston loslegte, erwartete ich eine ziemlich heftige Reaktion der Alten. Aber mitnichten. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Ich glaube, sie hörte sogar auf zu atmen. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Und dann begann sie zu stöhnen. Ich rührte mich nicht, sondern beobachtete nur. Mistral sah aus wie ein Mann, der gemütlich vor dem Fernseher sitzt. Er wartete. Odile Brial begann zu weinen. Nur trockene Schluchzer, ohne Tränen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vielleicht hatte sie schon alle Tränen bei Dalmate verbraucht, der sie zuvor schon ganz ordentlich in der Mangel gehabt hatte. Mistral zeigte sich geduldig. Nachdem sie sich beruhigt hatte – immer noch ohne ein Wort zu äußern –, brachte er ihr ein Glas Wasser. Sie trank es und begann, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Und zwar die ganze. Auch die Geschichte der gleich nach der Geburt getrennten Zwillinge. Ohne aufzuhören oder sich eine Ruhepause zu gönnen. Mistral schenkte ihr von Zeit zu Zeit Wasser nach, stellte aber keine einzige Frage. Er hörte irgendwie gleichgültig zu, so, als wäre er gar nicht bei der Sache. Als die Alte einmal nach Worten suchte, griff Mistral nicht ein. Er wartete ruhig ab. Nicht ein einziges Mal unterbrach er diesen geradezu magischen Moment und hütete sich, den Wortfluss der Brial zum Versiegen zu bringen. Sie starrte auf den Boden und packte aus. Mistral schickte immer wieder SMS an Galtier, der Viviane Brial verhörte, um ihn über den Stand der Dinge zu informieren. Aber das habe ich erst später erfahren. Er bestellte auch Wasser und Kaffee für Odile Brial per SMS. Die Beichte dauerte vier Stunden. Wir haben erfahren, dass François von einem Liebhaber Odiles entstellt wurde, den er einige Jahre später umbrachte.

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