Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
einbuchten.«
»Und was passiert mit dem Kerl, der im Krankenhaus liegt?«
»Ich warte nur noch auf den Anruf des behandelnden Arztes, dann fahre ich hin. Die Sache geht heute noch über die Bühne.«
Nach und nach leerte sich Mistrals Büro, bis nur noch Jacques Thévenot und Vincent Calderone zurückblieben. Die drei Männer genossen die Ruhe und konnten endlich ihre Gedanken ordnen. Jacques Thévenot brach das Schweigen als Erster.
»Wenn Sie François Brial verhören, Ludovic, dürfen Sie nie vergessen, dass es sich um einen eineiigen Zwilling handelt. Wenn Sie diese Karte ausspielen, erreichen Sie vielleicht, dass er Ihnen etwas erzählt.«
»Danke, ich werde daran denken. Die beiden waren neun Monate im Mutterleib und bei der Geburt zusammen. Und obwohl sie für ein Zusammenleben prädestiniert waren, hat man sie getrennt. Das haben sie nie verwunden.«
»Genau das. Es muss ein schreckliches Trauma sein, das sich wie ein ständiger, unerklärlicher Schmerz anfühlt. Und damit erklärt sich vieles.«
»Aber er ist außerdem schizophren. Ich hoffe nur, dass er keinen Anfall bekommt. Wenigstens ist er im Krankenhaus, falls er Hilfe braucht.«
Um 10.20 Uhr sah Mistral, wie die Schwestern Brial zum Untersuchungsrichter gebracht wurden. Mit hängenden Schultern gingen sie nebeneinander her. Polizisten trugen ihre Taschen und die Fotoalben, die als Belastungsmaterial benötigt wurden.
Als Mistral endlich allein war, empfand er das dringende Bedürfnis, allem zu entfliehen, was mit Mord zu tun hatte. Er öffnete die Schreibtischschublade und nahm den Gedichtband von Cendrars heraus. Wie üblich schlug er das Buch an irgendeiner Stelle auf und stieß auf das Gedicht Die Volturno . Jedes Mal musste er bei den beiden vorletzten Zeilen des Gedichtes lächeln.
Die Männer der Besatzung gleichen ihrem Schiff
Einäugig der eine, einarmig ein anderer, ein dritter ist taub .
Mistral klappte das Buch zu, legte die Füße auf den Schreibtisch und verlor sich in einen Wachtraum von Schiffen.
39
A M GLEICHEN T AG
Gegen 13.00 Uhr teilte der behandelnde Arzt im Hochsicherheitstrakt des Krankenhauses Mistral mit, dass François Brials Gesundheitszustand eine Befragung gestatte. Mistral dachte lange nach, ehe er beschloss, dass er auf die gleiche Art vorgehen würde wie bei François’ Mutter Odile. Er musste die richtige Frage stellen oder eine treffende Bemerkung finden. Sonst konnte er die Sache vergessen. Man hatte ihm berichtet, wie Brial sich auf dem Weg ins Krankenhaus verhalten hatte; daher wusste er, dass der Kranke sich durchaus in seiner eigenen Welt einschließen und die Antwort verweigern konnte. Mistral wollte die Hintergründe der sechs Morde erfahren, auch wenn er inzwischen eine sehr viel klarere Vorstellung davon hatte. Nach längerer Überlegung führte er mehrere Telefonate. Mit seinem letzten Gesprächspartner sprach er sehr lang.
»Ich bin in etwa einer Stunde bei Ihnen«, sagte er, ehe er auflegte.
Anschließend ließ er José Farias und Ingrid Sainte-Rose kommen und gab ihnen genaue Anweisungen.
»Ihr beide werdet François Brial verhören. Aber ihr stellt ihm lediglich Fragen zu seiner Identität, seinem Einkommen und seinem Wohnort. Seinen Bruder, seine Mutter, seine Tante und seine Krankheit dürft ihr nicht erwähnen, ebenso wenig wie die Morde. Am frühen Abend komme ich selbst und werde ihn ausführlich befragen.«
Thévenot und Calderone waren essen gegangen. Als Mistral sein Büro verließ, traf er auf Roxane Félix, die ihm mit einem Sandwich in der Hand entgegenkam.
»Sobald Sie Ihr lukullisches Mahl beendet haben, Roxane, möchte ich Sie bitten, mich zu einem Termin zu fahren.«
François Brial saß im Schneidersitz im Bett. Mit dem Rücken lehnte er am Kopfende. In seinem rechten Arm steckte die Nadel einer Infusion. »Damit betäuben wir Ihre Schmerzen. Außerdem dient sie der Ernährung und Entspannung.« Jeden Augenblick erwartete François Brial, dass Polizisten sein Zimmer stürmten und ihn zu den Morden befragten. Natürlich würde er nicht antworten – zunächst musste er erfahren, wie viel die Polizei über die Morde und über seinen Bruder wusste. Er versuchte die Arme anzuziehen, doch aus Sicherheitsgründen hatte man seine Handgelenke mit Handschellen an die Streben des Bettes gefesselt.
Von Zeit zu Zeit blickte ein Polizist durch das Überwachungsfenster in der Tür. François Brial sah ihm immer gerade in die Augen, und sein Blick ließ dem Wärter das Blut in den
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