Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
inzwischen so müde, dass er sich kaum noch aufrecht halten konnte. Alle Geräusche wirkten gedämpft, und er nahm das Treiben um sich herum nur noch verzögert wahr. Er war nicht mehr in der Lage, den langen Kampf mit François Brial aufzunehmen. Sobald er seine Schwäche zeigte, würde Brial sofort Profit daraus schlagen.
Mistral bereitete alles für das Verhör vor. Roxane Félix erwartete ihn im Flur. Sie würde ihn begleiten. Als Mistral gerade sein Büro verlassen wollte, kam José Farias herein und legte ihm zwei Dokumente vor. Mistral betrachtete sie. Es waren die Bilder zweier völlig identischer Männer. Einzig und allein die Lage des Muttermals der beiden unterschied sich.
»Das sind die Spiegelzwillinge, wie sie eigentlich sein sollten«, verkündete Farias.
»Woher haben Sie das?«
»Von Morin. Ingrid hat ihm ein paar Fotos der beiden Brüder mitgebracht, und er hat sie am Computer bearbeitet. Zunächst hat er die doch immerhin gehörige Gewichtsdifferenz ausgeglichen und anschließend die Narben im Gesicht von François entfernt. Außerdem hat er ihnen den gleichen Haarschnitt verpasst. In Wirklichkeit wiegt Jean-Pierre sicher mindestens fünfzig Kilo mehr als François, ist immer schlecht rasiert und hat langes Haar. François ist mager, hat ein kantiges, schwer vernarbtes Gesicht und trägt die Haare raspelkurz.«
»Wirklich faszinierend, ein Individuum sozusagen im Doppelpack zu sehen. Die Unterschiede haben sie bewusst herbeigeführt, um uns in die Irre zu leiten. Jean-Pierre hat sich im Gefängnis mit Süßigkeiten vollgestopft, während François jeden Tag Sport trieb. Sie sind gefühlsmäßig so eng miteinander verbunden, dass Äußerlichkeiten keine Rolle spielen. Heute Abend rufe ich Morin an und bedanke mich bei ihm.«
Mistral steckte die beiden Porträts in seine Aktentasche. Dann trat er auf den Flur, wo Roxane Félix auf ihn wartete, und reichte ihr die Autoschlüssel.
»Wir sollten lieber zu Fuß gehen«, wandte die junge Frau ein. »Bis zum Krankenhaus sind es nur dreihundert Meter.«
»Ich weiß. Aber heute Abend machen wir einmal eine Ausnahme.«
Fünf Minuten später stellte Roxane, die keinen Parkplatz finden konnte, den Wagen auf einem Taxiplatz ab und klappte die Blende mit der Aufschrift »Polizei« nach unten, damit das Auto nicht abgeschleppt wurde. Als sie aussteigen wollte, hielt Mistral sie zurück.
»Wir müssen uns noch fünf Minuten gedulden.«
Mistral schaltete das Autoradio ein und drückte den Knopf, der auf FIP eingestellt war.
Verblüfft beobachtete Roxane ihren Chef. Mistral warf einen Blick auf seine Uhr und drehte das Radio lauter. Die letzten Takte von Alain Bashungs Version von Les Mots Bleus erklangen. Dann meldete sich eine samtige, vertrauliche Stimme.
»Immer wieder gibt es Hörer, die gern mit uns sprechen möchten, und zwar nicht nur vereinzelt, sondern gleich zu Hunderten. Aber obwohl es uns manchmal leidtut: Es ist einfach nicht möglich, und dafür bitten wir um Verständnis. Heute Abend allerdings machen wir ein einziges Mal eine Ausnahme. Hiermit wende ich mich an einen unserer treuesten Hörer, der immer wieder in unserer Telefonzentrale anruft und in gewisser Weise zu einem Freund geworden ist. François, wo immer Sie jetzt sein mögen – wir denken an Sie.«
Mistral schaltete das Radio aus und stieg aus dem Auto. Das Laptop, den tragbaren Drucker und seine Aktentasche nahm er mit. Roxane ging neben ihm her. Sie wirkte noch immer verwirrt.
»Waren Sie deshalb im Sendehaus?«
»Ja. Zunächst schien es gar nicht so selbstverständlich, dass wir eine solche Nachricht unterbringen konnten, doch die Direktorin von FIP hat relativ schnell eingewilligt.«
»Aber François Brial konnte die Nachricht nicht hören.«
»Doch, er hat sie gehört.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil wir ein Radio in sein Zimmer gestellt haben. Er hat darum gebeten.«
»Aber das ist doch nicht möglich!«
»Im Prinzip haben Sie recht. Tatsächlich ist es so, dass wir ihn dazu gebracht haben.«
Sie waren im Hochsicherheitstrakt des Krankenhauses angekommen. Der Pfleger, der Brial das Radio »geliehen« hatte, wartete bereits auf Mistral.
»Wie ist es gelaufen?«
»Er muss die Nachricht auf FIP gehört haben. Seither schwebt er auf Wolke sieben.«
Mistral warf einen kurzen Blick durch das Guckloch in das verschlossene Krankenzimmer. François Brial, der mit Handschellen an das Kopfteil des Bettes gefesselt war, saß mit geschlossenen Augen da. Mistral und
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