Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
geschlossenen Augen nach.
»Sie müssen entschuldigen, aber ich bin so aufgeregt, dass es mir im Moment nicht einfällt. Sie wohnt irgendwo am anderen Ende des Départements Essonne, ungefähr anderthalb Autostunden von Paris entfernt. Der Name des Dorfes ist mir entfallen, aber wir brauchen sie ja bloß noch einmal anzurufen.«
Der Mann saß zusammengekauert in seinem Versteck, wartete und hielt sich die Ohren zu, um das durchdringende Du musst fliehen! nicht mehr hören zu müssen. Auf der Treppe entfernten sich die Schritte der Nachbarin und der beiden Polizeibeamten in Richtung der Wohnung von Legendre. Das linke Auge des Mannes brannte, war feuerrot und tränte. Endlich erhob er sich, glitt mit angehaltenem Atem zur Haustür, öffnete sie halb, schlüpfte hindurch und hielt sie fest, damit sie nicht laut ins Schloss fiel. Er entschloss sich, lieber die Rue Monsieur-le-Prince zum Boulevard Saint-Michel hinaufzugehen, um den Polizeimannschaften zu entgehen, die sicher binnen kürzester Zeit auftauchen würden. Dann drückte er seine Kappe tiefer in die Stirn und setzte die Sonnenbrille wieder auf, um sich vor den Blicken der Passanten zu schützen. Die Flucht war gelungen!
Ingrid rief bei der Kriminalpolizei an. Sébastien wartete vor Legendres Wohnungstür.
»Ich habe mit Mistral gesprochen. Er schickt uns eine Polizeistreife aus dem Viertel mit Werkzeug vorbei, damit wir die Tür einigermaßen unbeschadet aufstemmen können. Falls wir Legendre tot auffinden und es sich um einen natürlichen Tod handelt, übernehmen die Kollegen von der Streife den Fall. Sollte ein Verbrechen geschehen sein, bleiben wir beide hier und warten auf das Einsatzkommando. Ist er aber nicht in der Wohnung, sollen wir Mistral noch einmal informieren. Auf jeden Fall aber schickt er uns den Erkennungsdienst zum Fotografieren.«
Sébastien Morin ging hinunter auf die Straße, um vor dem Haus auf die Polizeistreife zu warten.
Im oberen Teil der Straße angekommen duckte sich der Mann zwischen zwei geparkte Autos und erbrach sich. Er wischte sich das Gesicht mit Papiertüchern ab und warf den Schwamm in die Gosse. Das Wasser, das die Rue Monsieur-le-Prince hinabfloss, spülte ihn in den nächsten Gully. Noch ein Stück weiter oben warf er das Handtuch in einen Papierkorb. Schließlich betrat er eine Kneipe in der Nähe des Jardin du Luxembourg, setzte die Sonnenbrille ab und ging in den Waschraum, um die Taschentuchfetzen zu entfernen, mit denen er seine Nasenlöcher verstopft hatte. Das Nasenbluten hatte aufgehört. Mehrmals wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um wieder einigermaßen menschlich auszusehen.
Er sah nicht, wie Furcht einflößend sein Äußeres wirkte. Angst und Schmerzen hatten tiefe Spuren hinterlassen. Doch der Mann vermied den Blick in die Spiegel, die sein Gesicht bis ins Unendliche vervielfältigten. Entsetzlich! Fieberhaft tastete er seine Taschen ab, bis er das fand, was er als seinen letzten Ausweg sah: Neuroleptika. Er nahm diese Tabletten nur in Ausnahmefällen; sie allein konnten den Schaden begrenzen.
Der Mann ging in den klimatisierten Gastraum zurück und setzte sich ganz hinten auf eine Bank. Er kehrte dem riesigen Spiegel, der die gesamte Rückwand einnahm, den Rücken. Auf dem Weg zu seinem Platz hatte der Mann nicht ein einziges Mal aufgeblickt – aus Angst vor seinem Spiegelbild. Er versuchte sein Zittern zu verbergen, indem er sich die Stirn abwischte, als habe er geschwitzt. Als der Kellner das erste Bier vor ihn hinstellte, fuhr der Mann fort, sein Gesicht zu trocknen; niemand sollte sehen, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen. Er schluckte zwei Tabletten, leerte das Glas in einem Zug und bestellte sofort das nächste. Nie hätte er gedacht, dass es so schwierig sein würde, zu fliehen; um Haaresbreite hätte er in der Falle gesessen.
Fünf Gläser Bier später verließ der Mann die Kneipe und lief den Boulevard Saint-Michel hinunter. Alle Geräusche schienen gedämpft. Hinter seiner Sonnenbrille musterte er die Passanten. Er fühlte sich beobachtet. Alle zehn Meter drehte er sich abrupt um. Doch er sah niemanden, der ihm folgte, was ihn fast ein wenig enttäuschte.
Er hatte das Gefühl, sein ganzer Kopf wäre in Watte eingepackt. Seine Kehle war trocken, und seine Lippen waren gefühllos, was er sehr richtig auf die Mischung von Alkohol und Neuroleptika zurückführte. Nachdem er etwa die Hälfte des Boulevards zurückgelegt hatte, betrat er eine Telefonzelle. Sorgfältig
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