Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
war, verschloss ein Streifenpolizist die Tür und brachte die Siegel an.
Nachdem die beiden jungen Polizisten Mistral Bericht erstattet hatten, bestieg Sébastien Morin sein Motorrad, ließ den Verschluss seines Helms zuschnappen, streifte die Handschuhe über und verließ den Quai des Orfèvres in Richtung Vincennes, wo er wohnte. Mit geöffnetem Visier war die Hitze auf dem Motorrad gut zu ertragen – zumindest solange man fuhr. Er passierte den Palais de Justice und bog dann nach rechts zum Pont au Change ein. Ein Bateau-Mouche voller Touristen fuhr die Seine hinauf. Morin sah zu, wie die Lichtkegel des Schiffes über das Gebäude am Quai de Gesvres streiften, in dem die Jugendschutzpolizei untergebracht war.
Als die Ampel auf Grün umsprang, gab Morin Vollgas. Der Verkehr war flüssig, und er hatte freie Bahn. Erst an der Kreuzung zum Pont Sully wurde er wieder langsamer. Er hätte wohl besser weiter Gas gegeben, um die Kreuzung schneller hinter sich zu bringen. Ein großes Auto raste aus Richtung der Brücke heran und überfuhr die rote Ampel. Der Fahrer war gerade dabei, eine Telefonnummer in sein Handy zu tippen. Morin wich noch nach links aus und versuchte das Letzte aus seinem Bike zu holen. Doch es war zu spät. Der schwere Wagen erwischte das Motorrad am Hinterreifen und schleuderte es gegen einen Baum. Morin flog hoch durch die Luft und landete auf der Bordsteinkante. Ein rasender Schmerz fuhr durch seine Beine. Das Auto fuhr weiter in Richtung Boulevard Henri-IV.
Um drei Uhr morgens wurde Mistral von der Einsatzleitung aus dem Schlaf gerissen. Er hatte schlecht geträumt. Als er nach dem Telefon griff, hatte er starkes Herzklopfen. Er wusste noch nicht genau, ob er sich noch in einem Albtraum oder schon in der Wirklichkeit befand.
»Tut mir leid, dass ich Sie wecken muss. Morin hatte einen Motorradunfall. Er liegt mit zwei gebrochenen Beinen und mehreren Traumata in der Klinik.
Mistral hörte zwar die Worte, brachte es aber nicht fertig, seine Gedanken zu sortieren.
»Ist es schlimm?«
»Er hat trotz allem ein Riesenglück gehabt und keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen. Aber so schnell werden wir ihn wohl nicht wiedersehen. Der Kerl, der ihn erwischt hat, hat Fahrerflucht begangen. Die Nachtstreifen sind im Einsatz.«
»Wann können wir ihn im Krankenhaus besuchen?«
»Nach Auskunft der Ärzte nicht vor heute Nachmittag.«
Mistral ließ sich wieder in die Kissen sinken. Clara war bei den Worten »Ist es schlimm?« aufgewacht und fragte, worum es ginge. Mistral murmelte etwas, das sie absolut nicht verstand. Sie hakte jedoch nicht weiter nach, denn sie sah, dass Ludovic wieder eingeschlafen war.
A USZUG AUS DEN T RAUM - UND T AGEBÜCHERN DES J.-P. B.
1984
Ich träume sehr schlecht. Richtige Albträume. Träume, die mich völlig verwirrt aufschrecken lassen und mir weiche Knie und Herzrasen verursachen. Am liebsten würde ich weinen, bis mir schließlich klar wird, dass alles nur ein Traum war. Dann wird es besser. Ich hatte zwei schreckliche Albträume im Abstand von einigen Wochen. Sie waren furchtbar. Im ersten Traum dachte ich, mein Hund Tom sei tot. Ich sprang mit Tränen in den Augen auf und rannte ins Wohnzimmer, wo sein Körbchen stand. Der Hund war ruhig und schlief den Schlaf der Gerechten. Als Tom mich bemerkte, hob er das Köpfchen und wedelte mit dem Schwanz. Er freut sich immer, mich zu sehen, ganz gleich, um welche Uhrzeit. Ich hatte wirklich schreckliche Angst, denn Tom ist mein einziger Vertrauter. Er hört mir bewegungslos zu und sieht mich dabei an. Manchmal bin ich mir fast sicher, dass er mich versteht. Ich fürchte, dass der Traum eine Vorhersage ist und dass ich Tom eines Tages tatsächlich tot auffinden werde.
Beim zweiten Albtraum bin ich so aufgeschreckt, dass ich aus dem Bett gefallen bin. Ich wand mich vor Schmerzen, hielt mir das Gesicht und rannte ins Bad – aber da war nichts. Es tat nur weh, unerträglich weh. Während ich mich im Spiegel betrachtete, fiel ich in Ohnmacht. Im Fallen stieß ich mir den Kopf zuerst am Waschbecken und dann am Heizkörper. Ich war völlig k.o.! Wenige Minuten später erwachte ich. Überall war Blut. Wenn die Kopfhaut blutet, sieht es zwar Furcht einflößend aus, aber es ist nicht weiter schlimm. Der anschließende Tag war scheußlich. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich im Bett bleiben musste.
Meine Mutter hat mir alle vier Stunden Tabletten und warme Suppe gegeben. »Trink das«, sagte sie. »Es wird dir gut
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