Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
tun.« Nach einiger Zeit hatte ich es satt, obwohl sie es sicher gut mit mir meinte. Wenn sie ins Zimmer kam, tat ich, als ob ich schlafe. Irgendwann bin ich dann wirklich eingeschlafen und träumte den Traum, der inzwischen ein Teil von mir geworden ist. Der einzige, den ich schon seit Jahren träume – die Verfolgung eines Schattens, einer Gestalt, eines Jungen, der sich weder umdrehen, noch mit mir reden will, und dessen Gesicht ich nicht kenne. Im Lauf der Jahre bin ich ihm so nah gekommen, dass ich ihn fast anfassen kann. Wenn ich aber nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt bin und die Hand ausstrecke, ist es, als ob ein Spiegel uns voneinander trennt. Weiter komme ich nicht.
Vielleicht werde ich es eines Tages schaffen. Vielleicht aber auch nicht.
16
D IENSTAG , 12. A UGUST 2003
Am Morgen nach Sébastien Morins Motorradunfall herrschte bei der Kriminalpolizei düstere Stimmung. Dalmate und sein Team berieten sich mit Mistral und Calderone.
»Über das Auto, das ihn erwischt hat, wissen wir kaum etwas«, berichtete Mistral. »Ich habe die Unfallaufnahme vom Nachtdienst gelesen. Es fängt schon gut an! Die ohnehin wenigen Zeugen sind sich nicht einig über die Automarke. Einer glaubt, einen dunkelbraunen Volvo-Kombi gesehen zu haben, ein anderer ist sich sicher, dass es ein dunkelblauer Chrysler-Van war. Die zwei oder drei anderen können sich überhaupt nicht an die Marke erinnern. Allerdings ist bei dem Unfall ein Scheinwerfer zu Bruch gegangen; der Nachtdienst hat die Splitter eingesammelt. Mit etwas Glück hilft uns das, den Wagentyp herauszufinden. Morins Bike ist in der Werkstatt, wo es auf Aufprallgeschwindigkeit und Farbspuren untersucht wird.«
»Wissen wir schon etwas über Sébastiens Zustand?«
»Ich habe heute Morgen im Krankenhaus angerufen. Zwar ging es dort drunter und drüber, aber ich konnte zwei Minuten mit der Stationsschwester sprechen. Seine inneren Organe haben nichts abbekommen. Die schlimmsten Verletzungen sind die beiden Beinbrüche. Offenbar hat er am ganzen Körper Schmerzen, aber das ist nach einem solchen Unfall wohl normal. Nach 14.00 Uhr dürfen wir ihn besuchen.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten würden«, sagte Dalmate. »Nicht, dass ich den Kollegen misstraue, aber schließlich gehört Morin zu meinem Team.«
»Klar, gar keine Frage. Außerdem gibt es Morin sicher Auftrieb, wenn er weiß, dass seine Teamkollegen sich ebenfalls mit dem Unfall beschäftigen«, nickte Mistral und fuhr fort:
»Ich fahre heute Nachmittag erst einmal nur mit Paul in die Klinik. Wir sollten nicht alle auf einmal zu ihm gehen, das wäre ihm wahrscheinlich zu viel. Ihr könnt ihn im Lauf der Woche besuchen. Falls sich in unserem Fall etwas Neues ergibt, während wir bei Morin sind, sagt Calderone Bescheid und schickt mir eine SMS.«
In einem winzigen Restaurant im 10. Arrondissement beendeten die beiden jungen Pakistani Zahid Khan und Hafiz Jaabar ihr aus Hühnchen, Reis und Tee bestehendes Mittagessen. Sie waren todmüde, und die Hitze machte ihnen zu schaffen. Über die Küchenhygiene des kleinen Restaurants machte man sich besser nicht allzu viele Gedanken. Die Tische waren mit Plastikgeschirr und verbogenem Metallbesteck gedeckt. Der schmierige Boden klebte unter den Sohlen, und wenn einmal eine Serviette vom Tisch fiel, bückten sich nur ganz Verwegene danach, um sie erneut zu benutzen.
Zahid und Hafiz kamen häufig in die Kaschemme, die gern von Pakistani aus ihrer Region besucht wurde. Hier aßen sie zu Mittag und zu Abend und zögerten den Moment des Zubettgehens so lange wie möglich hinaus. Sie rauchten, tranken Tee und diskutierten mit Landsleuten. Wenn ein Fußballspiel übertragen wurde, sahen sie fern. Beide waren illegale Arbeiter, und beide besaßen eine Sackkarre. Für sie waren die Sackkarren wertvolle Arbeitsgeräte, deren Handgriffe sie mit Klebeband umwickelt hatten, um Blasen zu vermeiden. Mit den Sackkarren transportierten sie Kartons voller Kleider, Obst oder anderer Produkte – je nachdem, für welchen Auftraggeber sie arbeiteten. Zu sechst wohnten sie in einer dreizehn Quadratmeter großen Unterkunft, die sie für einen horrenden Preis von einem reichen Landsmann gemietet hatten. Die schmutzigen Toiletten und ein winziges Waschbecken befanden sich im Innenhof eines baufälligen Hauses mit ungesundem Klima, das irgendwann über seinen Bewohnern zusammenzubrechen drohte. Trinkbares Wasser gab es nur in der
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