Die dunkle Seite des Weiß
mich einmal mehr, ob in ihr nicht doch eine ausgeprägte Sadistin schlummerte. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen. Und dann wieder war sie so hinreißend nett zu mir, dass man glauben konnte, sie wäre verliebt. Wenn das nicht absolut absurd gewesen wäre. Was konnte dieser junge Hüpfer schon von jemandem wie mir wollen … nein, Katherine war einfach nur ein netter Mensch. Und das kam in dieser Akademie voller Genies und soziopathischer Individualisten so selten vor, dass es fast misstrauisch machte.
Ich seufzte leise. »Lass mich raten. Nichts davon ist digital archiviert?«
Katherine zerstörte meine ohnehin geringen Hoffnungen mit einem gnadenlosen Kopfschütteln. »Nein, dazu kam noch niemand. Wir haben Wichtigeres zu tun.«
Ich runzelte die Stirn. »Und warum müsst ihr euch darum kümmern? Gibt es keine zentrale Stelle, die so etwas regelt?«
Katherine zog die Nase kraus. »Seit diesem Computercrash vor zwei Jahren zieht die Akademie es vor, Originaldokumente prüfen und nochmals in unser internes System eingeben zu lassen. Rat mal, an wem das hängebleibt? Die Stellenstreichungen machen es nicht einfacher. Aber das Problem kennst du ja.«
Ich lächelte schief. »Ja, mit Stellenstreichungen kenne ich mich wirklich bestens aus. Gut, dann warte ich mal ab, was auf mich zukommt.«
Katherine lächelte zurück. »Tapfer. Ich beeile mich, versprochen.«
»Danke, Katherine.«
»Für dich doch gerne. Ich lege dir die Akten in dein Fach«, murmelte sie und für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass sich die Röte auf ihren Wangen verstärkte. Doch ich konnte mich getäuscht haben, denn schon hatte sie sich umgedreht und verschwand durch eine der massiven Stahltüren im mysteriösen Inneren des Archivs.
*
01. Oktober 1911
Ein Tag ist wie der andere und wir alle altern um Jahre mit jeder Stunde. Meine Zimmernachbarin weiß nicht mehr, wann sie herkam, irgendwann im Frühling, glaubt sie. Und sagt, dass die Erinnerungen verwischen mit der Zeit. Dass man stumm wird und taub, von Innen heraus, wenn man nicht auf sich achtet. Manchmal spricht sie in Rätseln, sind das die nachmittäglichen Fieber? Es riecht nach Kiefern, nach Campher und nach Chloroform. Luise, so heißt sie, ist nicht viel älter als ich. Sie versorgt mich mit Birnen, die sie nachts aus der Küche stielt. Und sie hat mir ein Buch gegeben, Gedichte von Else Lasker-Schüler. Ich habe nie von ihr gehört. ‚Meine Wunder‘ heißt der Band und Luise sagt, er sei im Frühjahr erst erschienen. Nie habe ich Vergleichbares gelesen. Luise lächelt nur, wenn ich sage, dass es mich aufrüttelt. Meine Wunder … finde ich sie hier?
Mit gerunzelter Stirn ließ ich das Tagebuch sinken. Je mehr ich über Clara von Rieckhofen las, desto vertrauter wurde sie mir. Und desto mehr wollte ich ergründen, was mit dieser jungen Frau geschehen war. Ihr Tagebuch war das Abbild einer Zeit, in der man der Tuberkulose nichts entgegenzusetzen hatte als frische Luft und Ruhe. Mycobacterium tuberculosis hatte die schmutzigen und überbevölkerten Hinterhöfe der Städte ebenso erobert wie die edlen Salons. Eine Krankheit, deren Stärke nicht in fulminantem Schrecken lag, zumindest nicht in der Mehrzahl. Es war der schleichende Verfall, der sie so beängstigend machte. Und jedem Behandler das Gefühl gab, hilflos zusehen zu müssen, wie Menschen mehr und mehr dahinschwanden. Überall waren Lungenzentren aus dem Boden gestampft worden, und die Beelitzer Heilstätten waren das größte und beeindruckendste Sanatorium seiner Zeit. All das schien Ewigkeiten her zu sein. Und doch fiel es nun in meinen Alltag ein und wirbelte alles durcheinander.
Gedichte von Else Lasker-Schüler …
Ich erhob mich vom Sofa und ging hinüber zu meinem Bücherregal, das aus allen Nähten platzte. Mein Zeigefinger wanderte über die dichtgedrängten Buchrücken. Hatte ich nicht irgendwo …? Da! Ich zog einen schmalen Band hervor, alt und abgegriffen, mit einem beigen, fleckig gewordenen Leinenumschlag. Tatsächlich. ‚Meine Wunder‘.
Ich schlug eine beliebige Seite auf, überflog einige Zeilen und musste lächeln. Die Gedichte von Else Lasker-Schüler hatte ich immer gemocht. Und Mirella hatte sie gehasst. Findest du das nicht ein wenig hysterisch, hatte sie mich gefragt, vor vielen Jahren. Nein, fand ich nicht. Und Clara anscheinend auch nicht.
Warum Luise ihr das Buch wohl gegeben hatte? Je mehr ich mir die Beiden vorstellen konnte, desto neugieriger wurde ich auf das, was sich
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