Die dunkle Seite des Weiß
Diesen Tonfall kannte ich. Es war eine besondere Nuance der Stimmlage, die immer dann eintrat, wenn Mirella das Gefühl hatte, nicht ernst genommen zu werden. Und das war grundsätzlich ein Fehler. Es war nie gut, Mirella zu unterschätzen, nur weil sie in einer hübschen Verpackung steckte. Wenn ich mich nicht sehr irrte, würde Manuel gleich sein blaues Wunder erleben …
»Willst du mich verarschen?« Mit drei schnellen Schritten durchquerte Mirella das Zimmer und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass ein opulenter Kerzenleuchter aus der Balance geriet und laut scheppernd auf den Dielenboden fiel. »Das Mädchen ist tot und deine Fingerabdrücke sind auf ihrem Tagebuch! Sieht verdammt mies für dich aus, um ehrlich zu sein, also mach das Maul auf! Aber schnell, oder ich vergesse meine gute Kinderstube!«
Manuel klappte den Mund auf und wieder zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er starrte erst Mirella, dann mich mit großen Augen an. Anscheinend brauchte er einen Moment, um sich zu fassen, und ich konnte ihn gut verstehen. Das Überraschungsmoment von Mirellas Ausrastern war atemberaubend, weil sie in einem so heftigen Gegensatz zu ihrer sonstigen Beherrschtheit standen. Das waren die seltenen Momente, in denen die Gene der sizilianischen Mutter denen des norddeutschen Vaters ein Schnippchen schlugen.
»Darf sie das?«, fragte Manuel irritiert in meine Richtung.
Ich unterdrückte ein Grinsen. »Was denn? Ich habe nichts gehört oder gesehen.«
Manuel blinzelte. Er schien sich nicht sicher zu sein, inwieweit Mirella und ich für wichtige Informationen vielleicht noch ganz Anderes tun würden, als nur ein wenig lauter zu werden. Die Akademie arbeitete zwar mit den polizeilichen Behörden zusammen, hatte aber bei weitem nicht deren Befugnisse. Doch das wusste Manuel nicht. Und was er nicht wusste, spielte uns in die Hände.
»Also gut«, presste er schließlich hervor und atmete tief durch. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Am besten am Anfang«, sagte Mirella, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand und hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihrer Jeans.
Ich stellte mich unauffällig in Manuels Nähe. Je näher ich jemandem bin, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich Dinge wahrnehme. Das, was zwischen den ausgesprochenen Zeilen liegt. Unsicherheit, unterdrückter Zorn, Angst, Trauer. Alle diese Emotionen liegen wie unsichtbare Diamanten im Raum. Man muss sie nur einsammeln.
»Ja, ich habe die Leiche gesehen«, sagte Manuel mit einem leichten Zittern in der Stimme. Er blickte zu uns auf. Seine Augen wirkten plötzlich gerötet. »Aber das Mädchen war schon tot, als wir sie gefunden haben. Das müssen Sie mir glauben!«
»Wir?«, fragte ich gedehnt. »Du warst also nicht alleine in den Heilstätten?«
Manuel schnaubte leise. »Was soll ich denn alleine in der Ruine? Nein, ich bin mit Freunden dagewesen.« Er blinzelte nervös. »Schon mal was von den Dark Moon Partys gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, aber du wirst mir sicher weiterhelfen können.«
Mirella fixierte Manuel prüfend. »Die Dark Moon Partys finden einmal im Monat statt«, sagte sie. »Immer an Neumond.« Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Es sind Partys an illegalen Orten. Je schwieriger man dorthin kommt und umso gefährlich es ist, desto interessanter für die Gäste.«
»Und woher kennst du dich so gut damit aus?«, wunderte ich mich.
Mirella unterdrückte ein Lächeln, ich sah es an dem leichten Zucken in ihren Mundwinkeln. »Ich habe davon gehört.« Dann wandte sie sich wieder an Manuel, der wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa saß und unruhig an seinem T-Shirt herumzupfte. »Ihr feiert also diese Partys in den alten Heilstätten, ja?«
Manuel nickte. »Ja, schon eine ganze Weile. Das Gelände bietet sich einfach an, oder? Jede Menge Gebäude mit jeder Menge Platz.«
»Und im Lauf einer Nacht ist das Ganze eskaliert und irgendjemand hat nun dieses Mädchen auf dem Gewissen?«
Ich runzelte die Stirn. Mirella wusste doch, dass das Mädchen nicht aus diesem Jahrhundert stammte. Wir wären nicht hier, wenn es sich um einen normalen Todesfall handeln würde.
»Nein, eben nicht!«, entgegnete Manuel und rang die Hände. »Verdammt, ich hätte einfach nicht in diesen beschissenen Keller gehen dürfen!«
Ich spürte eine Veränderung im Raum. In Manuels Anspannung mischte sich ein anderes Gefühl. So etwas wie … ein schlechtes Gewissen? Warum?
»Was für ein Keller?«, hakte
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