Die dunkle Seite des Weiß
war immer unser größter Unterschied gewesen. Während ich mich in Gefühle hineinfallen ließ und sie als meine Wegweiser betrachtete, koppelte Mirella sich von allen Emotionen ab, wenn sie ihr zu viel wurden oder sie in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigten. Dass dies seinen Preis hatte, stand auf einem anderen Blatt. Manchmal war sie mir unheimlich. Und doch. Ich bildete mir noch heute ein, einer der wenigen Männer zu sein, die einen Zugang zu Mirellas emotionaler Seite gefunden hatten. Wir ergänzten uns perfekt. Zumindest hatten wir das einmal getan. Vor langer Zeit.
Die Tür schwang auf und Thomas Jarasch steckte den Kopf zu uns herein. Thomas war Mitte Dreißig, nicht besonders intelligent und so etwas wie die gute Seele der Akademie. Er sprang ein, wenn Botendienste zu erledigen waren, brachte gelegentlich einen Kaffee vorbei, wenn man selbst vor lauter Arbeit nicht einmal in die Kantine kam, und hatte für jeden ein freundliches Wort übrig. Ansonsten bewegte er sich so unauffällig durch die Räume und Flure der Akademie, dass man ihn kaum wahrnahm. Thomas lächelte uns an. »Braucht ihr irgendwas?«
Mirella lächelte zurück und schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Gerade nicht. Aber danke, dass du nachfragst.«
»Mach ich doch gerne.« Thomas verabschiedete sich mit einem Nicken und schloss die Tür leise wieder hinter sich.
»Also, wo waren wir stehengeblieben? Wir haben die Leiche, den Fundort, das Tagebuch«, sagte ich.
Mirella sah mich aus ihren klaren Augen an. Zum ersten Mal seit unserem gestrigen Streit begegneten sich unsere Blicke, doch ihr Gesicht blieb vollkommen unbewegt. Ich hätte nicht mit Sicherheit sagen können, was in ihrem Inneren vorging. »Wie ich dich kenne, hast du dir das Tagebuch schon angesehen. Irgendetwas Interessantes dabei?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nicht. Aber wenn man nicht weiß, wonach man sucht, dann fällt einem entweder alles oder nichts auf.«
Mirella nickte und starrte grübelnd aus dem Fenster. »Wir sollten nochmal in die Heilstätten. Aber vielleicht nicht am Tage. Sondern nachts. Wer weiß, wer sich da so herumtreibt.«
Ich lächelte matt. »Wenn du die Nacht mit mir verbringen willst, dann ginge das auch an einem weniger ungemütlichen Ort.«
Sie wich meinem Blick aus und schwieg.
Ich legte nach. »Und, wird das dann ein Dreier? Du, ich und Ernesto?«
Mirella seufzte leise, legte den Kopf schräg und musterte mich wie ein bemitleidenswertes Insekt. »Verschon mich damit, ja? Verschon uns beide. Wir haben es versucht, es hat nicht funktioniert, finito. Ich wäre dir dankbar, wenn du die alten Geschichten aus unseren Ermittlungen heraushalten könntest. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin sehr glücklich mit Ernesto.«
Ich streckte mich genüsslich und stand lächelnd auf. »Wie schön. Dann gehe ich mal ins Archiv und wühle in den Schatten der Vergangenheit. Vielleicht hilft das weiter.« Im Türrahmen drehte ich mich noch einmal um. »Und wenn du mir schon die Wahl lässt, mi corazón : Ich glaube dir kein Wort.«
*
»Du bist wieder dabei? Freut mich!« Mit einem energischen Ruck schob Katherine einen Stapel Akten zur Seite. Sie saß hinter dem gewaltigen Empfangstisch, an dem jeder Archivbesucher vorbei musste, und gab Daten in das Computersystem ein. Auf ihren Wangen lag eine leichte Röte, doch das konnte auch einfach geschickt aufgetragenes Rouge sein.
»Heilstätten zwischen 1910 und 1912 sagst du? Lass mich mal nachsehen.« Ihre Finger flogen über die Tastatur. Dann runzelte sie die Stirn und strich die glatten, blonden Haare zurück. »Wird nicht ganz einfach, schätze ich«, sagte sie, während ihr Blick über die Einträge auf dem Bildschirm wanderte. »Da gibt es eine Menge Material. Ich suche es dir raus, aber das kann dauern.«
»Und das heißt was?«
»Naja, morgen früh dürfte alles da sein.«
»Morgen früh?« Entgeistert beugte ich mich vor und betrachtete die nicht enden wollenden Einträge auf dem Monitor.
Katherine scrollte auf dem Bildschirm nach unten. »Die Heilstätten waren ein riesiges Krankenhaus. Bei so etwas fällt einiges an Verwaltungsaufwand an. Und da du mir so gut wie keine eingrenzenden Infos liefern kannst, musst du da jetzt wohl durch.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Immerhin musst du zunächst nur die Dokumentation des Frauentraktes durchgehen, das ist doch schon mal etwas.«
»Schwacher Trost …«
Ich begegnete dem amüsierten Funkeln im Blick der jungen Archivarin und fragte
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