Die dunkle Seite des Weiß
ich nach.
Manuel zuckte mit den Schultern. »Das gesamte Gelände ist unterkellert, es gibt unzählige Gänge. Wir wussten nicht, dass es im Frauensanatorium einen Zugang gibt. Viele Gänge haben die Russen noch zu DDR-Zeiten zugemauert, andere sind offen. Man weiß nie, wo man rauskommt, wenn man sich da mal hineinwagt.« Manuel schluckte. »Ich hab den Zugang gefunden. Zufall.«
»Wie kam es dazu?«
Manuel schnaubte leise. »Ich musste pissen. Es war voll auf der Party und außerdem hat es geregnet wie aus Kübeln. Ich wollte nicht raus und da bin ich ein Stück weiter, zum hinteren Teil des Gebäudes, und die Kellertreppe runter. Nicht an der Seite, wo man leicht rankommt, sondern an der anderen. Von außen kommt man da gar nicht mehr rein, alles voller Schutt. Und da war dann auf einmal diese Tür.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich war einfach neugierig.«
»Es gibt einen Wachschutz auf dem Gelände«, sagte Mirella und straffte die Schultern. »Wie habt ihr es eigentlich geschafft, den zu umgehen?«
Manuel verzog spöttisch die Mundwinkel. »Das war kein Problem.«
Ich runzelte die Stirn. »Wie, kein Problem?«
Manuel blickte mich an, als wäre ich minderbemittelt. »Mein Gott, jeder ist bestechlich, oder? Und so ein kleines Gehalt als Wachmann, da freut man sich eben über die eine oder andere Auffrischung. Der hat mitgemacht. Aber nicht verraten, sonst ist der dran, und das will ich nicht. Der kann ja nichts dafür.«
Ich begegnete Manuels Blick und merkte, dass er nervös blinzelte. Gleichzeitig spürte ich ein leichtes Zittern, das von ihm ausging und sich als unmerkliche Vibration im Raum ausbreitete. Ich kannte dieses Gefühl. Es war für mich immer mit einer Farbe gekoppelt, einem verwaschenen Grau. Und es stand für die Lüge.
Kein Zweifel, Manuel erzählte uns nicht die ganze Wahrheit. Und ich hätte zu gern gewusst, warum.
»Und wenn etwas passiert wäre? Die Heilstätten sind teilweise so marode, dass Einsturzgefahr besteht. Dann wäre er auch dran gewesen«, hakte ich nach.
Manuel zuckte mit den Schultern. Sein unnahbares Gesicht sollte Coolness signalisieren, doch die Tatsache, dass er nervös seine Hände knetete, sprach eine ganz andere Sprache. »Ach was. Wir können schon auf uns aufpassen.«
Ich verzog die Mundwinkel. »Klar. Und weil so viele das von sich glauben, gibt es auf dem Gelände der Heilstätten jedes Jahr wieder Todesfälle. Die Leute überschätzen sich oder glauben, dass die Bausubstanz noch nicht ganz so marode ist, wie es scheint. Und hoppla, stürzt man mitsamt Balkon ins Jenseits.«
Als Manuel nicht antwortete, atmete ich tief durch. »Okay, ihr habt dann also die Tür aufgeschoben und seid in den Keller. Und dann?«
Manuel legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Das war so dämlich, sowas von scheißdämlich!«
»Erzähl einfach nur, was ihr gefunden habt«, sagte ich.
Manuel wandte sich mir zu. »Das Mädchen natürlich. In einem der Gewölbe lag sie. Da waren Blumen und überall brannten Kerzen … Und komischen Skulpturen standen herum. Es war wirklich gruselig …«
»Sagt jemand, der die Ästhetik des Todes liebt«, murmelte Mirella.
Ich unterdrückte ein Grinsen.
»Ich habe noch nie eine echte Leiche gesehen!«, stammelte Manuel. »Und das war so heftig! Wir waren ja auch alle total betrunken und …«
»Schon klar«, sagte Mirella. »Ich nehme an, ihr wart auch bekifft oder hattet irgendwelche bunten Pillen dabei oder Pilze, oder was weiß ich. Ehrlich, ich will‘s gar nicht wissen. Erzähl weiter.«
»Erst dachte ich, es wäre eine Halluzination«, flüsterte Manuel mit belegter Stimme. »Aber es war real. Total real. Sie lag einfach nur da. Und diese Kerzen …«
»Und was habt ihr dann gemacht?«, fragte ich, während mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ohne Zweifel musste der Anblick des toten Mädchens Manuel geschockt haben. Ich spürte das Anfluten seiner Panik in diesem Moment mehr, als mir lieb war.
Hochsensibel für Emotionen und Stimmungen zu sein, hat sehr viele Vorteile. Ich kann mit 99 prozentiger Sicherheit sagen, ob sich Lügen in die Atmosphäre eines Raumes verweben. Ob jemand Angst verspürt. Oder Schuld. Doch wenn ich nicht aufpasse, erwischt mich die Emotion einer anderen Person wie aus dem Nichts. Ein Krake, der seine Tentakel um mich legt und gnadenlos zudrückt.
Ich versuchte, mein stolperndes Herz zu beruhigen, und ärgerte mich über mich selbst. Es gelang mir nicht, mich genug gegen Manuel
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