Die dunkle Seite des Weiß
1911 in den Heilstätten ereignet hatte. Was aus Clara geworden war, wusste ich. Sie lag in Hades‘ Kühlfach und dazwischen fehlte uns ein Zeitraum von etwa 100 Jahren. Aber Luise? Was war mit ihr geschehen? Hatte sie die Krankheit überlebt? Ich seufzte leise. Je mehr man erfuhr, desto mehr Fragen taten sich auf. Es war immer das Gleiche. Überall.
Kapitel 6
»Wir haben eine Spur. Beeil dich, wir müssen los.«
Ich hatte die Tür zum Büro noch nicht hinter mir geschlossen, als Mirella mir die Neuigkeit präsentierte.
»Darf ich erst mal frühstücken?« Ich warf die Tüte mit dem Croissant auf den Schreibtisch und wollte aus meiner Jacke schlüpfen, doch Mirella packte mich am Arm und schob mich wieder Richtung Tür. »Später. Unterwegs. Oder faste mal ein wenig, würde dir auch gut tun.« Sie zog ein Foto aus der Tasche ihres Mantels und hielt es mir vor die Nase. »Hier, schon mal gesehen?«
Ich griff nach dem Bild. Es zeigte einen jungen Mann mit kinnlangen, schwarzen Haaren und bleichem Gesicht. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Ich zuckte mit den Schultern. »Ein Gruftie. Und? Was hat der mit unserer Leiche zu tun?«
Sie schnappte sich das Bild. »Bevor du das Tagebuch von Clara bekommen hast, haben unsere Leute von der Spurensicherung es natürlich gründlich untersucht. Und bei den Fingerabdrücken gab es einen Volltreffer.« Sie wedelte mit dem Foto vor meiner Nase herum. »Diesen sympathischen jungen Herrn hier. Der Computer hat ihn beim Datenabgleich ausgespuckt. Hausfriedensbruch im letzten Herbst.«
Ich grinste breit. »Lass mich raten. Auf einem Friedhof?«
Mirella lächelte schwach zurück. »Guter Versuch, aber nein. In den Beelitzer Heilstätten.«
Ich pfiff leise durch die Zähne. »Ach was! Den Vogel sollten wir uns dringend einmal ansehen.«
Ich lehnte mich vor und angelte die Croissanttüte vom Schreibtisch. Als ich mich zurückzog, strich mein Körper wie beiläufig an Mirellas Hüfte entlang. Sie zog scharf den Atem ein. Für einen kurzen Moment begegneten sich unsere Blicke, dann machte ich einen Schritt zur Seite und öffnete schwungvoll die Tür. »Bitteschön. Ladies first.«
*
»Wenn ich‘s doch sage – ich habe damit nichts zu tun!«
Das Gesicht des jungen Mannes hatte einen fast flehentlichen Ausdruck angenommen und sein Blick huschte unsicher zwischen Mirella und mir hin und her. Offensichtlich war er alles andere als begeistert davon, Besuch von Mitarbeitern der Akademie zu bekommen. Doch das überraschte mich nicht. Für gewöhnlich betrachtete man uns eher misstrauisch denn herzlich, auch wenn die Akademie alles dafür tat, in der Öffentlichkeit gut dazustehen. Ich hatte es nach Möglichkeit immer vermieden, über meinen Beruf zu sprechen, selbst ohne das brisante Detail einer geheimen Abteilung für paranormale Phänomene. Aus gutem Grund.
Mirella nickte mir unmerklich zu und räusperte sich. »Herr Landinger, Ihre Fingerabdrücke sind auf dem Tagebuch«, sagte sie. »Wenn Sie nichts mit der Sache zu tun haben, wie erklären Sie sich dann diesen überaus seltsamen Zufall?«
Der junge Mann schluckte schwer. Dann strich er sich mit zitternden Fingern das strähnige Haar zurück. »Es ist kompliziert«, murmelte er.
Ich nutzte die Möglichkeit, um unauffällig meinen Blick durchs Zimmer schweifen zu lassen. Manuel Landinger war der Archetyp eines Grufties. Einer der romantischen Sorte, der sich klischeehaft mit der Ästhetik des Todes umgab. Schwarze Möbel, schwarze Vorhänge, Fotografien winterlicher Landschaften, schwarze Kerzen in opulenten Leuchtern. Es lag ein unterschwelliger Geruch in der Luft, den ich nicht deuten konnte. Er erinnerte mich an etwas von früher, doch ich kam nicht darauf, was es war. Räucherstäbchen vielleicht? Manuel selbst war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und wirkte müde. Kein Pentagramm um den Hals. Für einen Moment fragte ich mich amüsiert, ob er vielleicht in einer Gruft schlief, doch die Frage erschien mir gerade unpassend. Später vielleicht.
»Was ist kompliziert?«, hakte Mirella nach, ohne die Miene zu verziehen.
Manuel Landinger rang wortlos die Hände. Dann ging er mit den typisch wiegenden Bewegungen eines zu schnell in die Höhe geschossenen jungen Mannes, der sich noch immer nicht an seine langen Beine gewöhnt hat, zum Sofa hinüber und ließ sich darauf fallen. »Verstehen Sie doch. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Wirklich nicht.«
Mirella nickte. »Natürlich. Kein Problem.«
Ich hob eine Augenbraue.
Weitere Kostenlose Bücher