Die dunkle Seite des Weiß
freundliches Gesicht, eine Halbglatze und dunkle Ringe unter den Augen. Ein Schlafloser wie ich also? Aber bitte nicht auf meinem Bouleplatz …
Der Fremde lehnte sich auf der Bank zurück, nahm einen Zug von seinem Zigarillo und musterte mich mit zunehmendem Interesse. »Das hier ist öffentlicher Raum.«
»Interessiert mich nicht. Und machen Sie das Ding aus.« Ich deutete knapp auf das Zigarillo. »Schauderhafter Geruch. Und es bringt Sie ins Grab.«
Der Mann lachte leise auf. »Ein Gutmensch, besorgt um meine Gesundheit? Das nehme ich Ihnen nicht ab.« Ein Funkeln trat in seine Augen. »Was für ein Spinner sind Sie?«
»Keiner, den Sie zum Feind haben wollen.«
Der Mann legte den Kopf schräg und lächelte amüsiert. »Interessant. Eigentlich sollte sich jeder einen Erzfeind zulegen, finden Sie nicht auch? In jeder richtig guten Geschichte gibt es einen Erzfeind.«
Das Schweigen dehnte sich endlos in die Nacht. Ich spürte schmerzlich meine angespannte Kiefermuskulatur. Man merkt, wenn Situationen nicht weiterführen. Umso eleganter muss der Abgang sein.
»Danke, mein Bedarf an Möchtegern-Erzfeinden ist für dieses Leben gedeckt«, sagte ich. »Wenn Sie unbedingt frische Luft brauchen, dann gehen Sie woanders hin. Nachts spiele ich hier Boule. Alleine. Immer. Und alleine heißt kein Rauch, keine Beobachter.«
Der Mann schob das Zigarillo vom linken in den rechten Mundwinkel. Im gedämpften Licht der Gaslaternen wirkten seine Augenringe wie schattige Krater. »Nachts also«, sagte er, und machte sich eine Notiz in sein Buch. »Und weiter?«
Ich hob irritiert die Brauen. »Wie, weiter?«
»Schlafloser Misanthrop. Da frage ich mich doch, warum? Verlassen worden? Todkrank? Traumatisiert?« Er stand auf und blickte mir direkt in die Augen. »Wahrscheinlich alles zusammen, oder?«
Ich atmete tief durch. Was bildete dieser Typ sich eigentlich ein? Er störte meine Ruhe, besetzte meinen Platz, faselte unfassbar dämliches Zeug und strahlte dabei eine Selbstsicherheit aus, dass ich ihm am liebsten direkt ins Gesicht gesprungen wäre. Doch aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht. Es war nicht mehr als ein Gefühl. Aber auf meine Gefühle war meistens Verlass.
Also lächelte ich matt. »Bedaure, Sie werden es nie erfahren.«
Er nickte bedächtig, klappte das Notizbuch zu und wandte sich zum Gehen. »Oh doch, das werde ich. Versprochen.«
Er grinste mir zum Abschied zu, hob die Hand zum Gruß, als wären wir alte Freunde, und verschwand mit langsamen Schritten in der Dunkelheit des Ufers. Für einen Augenblick starrte ich ihm reglos nach. Dann schnaubte ich leise, drehte mich um, ging kopfschüttelnd zu meinen Boulekugeln zurück und setzt das Spiel fort. Doch immer wieder wanderte mein Blick zur Bank am anderen Ende des Platzes zurück. Merkwürdig. Auf einmal wirkte sie zu leer.
Kapitel 5
»Wie erklärt es sich, dass die Leiche mitten im Speisesaal in einer Badewanne lag?« Ich trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum und richtete meinen Blick auf Mirella.
Sie strich sich die widerspenstigen Locken zurück und zuckte mit den Schultern. »Der Wachmann sagte, dass immer mal wieder altes Mobiliar herumgeschoben wird. Es ist zwar verboten, das Gelände zu betreten, weil es in Privatbesitz ist, aber das scheint niemanden zu kümmern. Der Vandalismus ist enorm und leider kann das auch der Wachschutz nicht wirklich verhindern. Investoren scheinen zu zögern, weil die Auflagen des Denkmalschutzes hoch sind. Alles in allem ein Dilemma. Jammerschade.«
Ich nickte und lehnte mich in dem Schreibtischstuhl zurück, den Mirella mir hingeschoben hatte. Simon hatte nicht nur unsere Zusammenarbeit an diesem Fall festgelegt. Er hatte es auch für sinnvoll gehalten, dass wir uns ein Büro teilten. Mirellas Büro, um genau zu sein. Ein winziger Raum, in einer ruhigen Ecke des Akademieareals, der über nicht viel mehr als einen großen Schreibtisch, ein paar Regale und einen Stuhl verfügte. Durch das kleine, ovale Fenster zum Hof fiel nur wenig Licht und auf der Fensterbank stand einsam die einzige Pflanze, die hier eine Chance zum Überleben hatte: Herr Schröder, ein Kaktus. Mirella hegte und pflegte ihn mit einer solch liebevollen Hingabe, dass jeder, der sie nicht besser kannte, stutzig werden musste.
Ich wusste, dass sich hinter Mirellas kühler Fassade eine Frau versteckte, die sehr wohl um die Kraft der Emotionen wusste. Und die es bis auf seltene Ausnahmen vorzog, sich ihnen nicht auszuliefern. Das
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