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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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Schrift entziffern konnte. ‚Oliver Menke, Heilpraktiker. Chinesische Medizin‘. Auf der Rückseite die Kontaktdaten.
    Es kostete mich alle Kraft, die Telefonnummer zu wählen. In meinen Schläfen konzertierte ein Presslufthammerorchester und das Läuten des Telefons schrillte nahezu unerträglich in meinen Ohren. Endlich, es kam mir vor, als wären Stunden vergangen, hob am anderen Ende der Leitung jemand ab.
    *
    Noch nie war ich einem Menschen so dankbar für die Bereitschaft, mich zuhause aufzusuchen. Als es endlich klingelte, hangelte ich mich mit dem Mut eines Verzweifelten zur Tür und öffnete. Im Treppenhaus flammte die Beleuchtung auf, dann hörte ich unter regelmäßigen Schritten das Knarren von Stufen.
    Das Orchester in meinen Schläfen hatte sich gerade auf ein Adagio eingelassen, in das sich wohltuend schleppende Synkopen einfügten wie erleichterte Seufzer. Ich lehnte mich erschöpft an den Türrahmen und sah, wie der Heilpraktiker die letzten Stufen zu mir hinaufstieg. Als unsere Blicke sich trafen, blieb er stehen.
    »Sie?«, sagte ich fassungslos. Ein Sirren wie von Hornissen bahnte sich den Weg an den Synapsen vorbei. Es folgte ein irritierender Moment atemberaubender Stille. Dann setzte mich das Orchester mit einem gigantischen Paukenschlag schachmatt.
    *
    Als ich die Augen aufschlug, brauchte ich einen Moment, um mich zu orientieren. Direkt neben meiner Nase der Parkettboden. Mein Blick wanderte unter das Flurregal. Schuhe, Büroklammern, Wollmäuse, ein zerfledderter Regenschirm. Neue Perspektiven. Aber warum nur lag ich hier auf dem –
    »Geht's wieder?«
    Die Stimme eines Mannes brachte meine Gedanken mit erschreckender Schnelligkeit auf Trab. Ich richtete mich auf und geriet ins Taumeln. Spürte sofort die stützenden Hände meines Gastes, der mich aufmerksam an den Schultern packte.
    »Langsam, nicht so eilig. Wir wollen doch nicht, dass Sie gleich wieder umkippen.«
    Ich schüttelte den Mann ab, wankte fluchend ins Wohnzimmer und ließ mich auf das Sofa fallen. »Was zur Hölle machen Sie hier?«
    Oliver Menke zuckte mit den Schultern. »Sie haben mich angerufen. Kopfschmerzen, Sie erinnern sich?« Er setzte sich in den Sessel mir gegenüber und schlug lässig die Beine übereinander.
    Ich starrte ihn an. Er hatte deutlich weniger Augenringe als in meiner Erinnerung, und auch sonst wirkte er frischer, erholter. »Sie sehen besser aus als bei unserer letzten Begegnung.«
    »Das Kompliment würde ich gerne zurückgeben«, sagte der Heilpraktiker trocken. »Aber ich lüge nicht. Sie sehen noch beschissener aus als letztens.«
    Das Schicksal hat wirklich Sinn für Humor. Dass ich mir von allen Heilpraktikern Berlins ausgerechnet die seltsame nächtliche Begegnung vom Bouleplatz in meine Wohnung gerufen hatte, war mehr als komisch.
    »Sind Sie immer so einfühlsam?« Vorsichtig fasste ich mir an die Schläfen. Das Wummern und Sirren war leiser geworden, gedämpfter, aber noch immer deutlich zu spüren.
    Oliver Menke verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. »Sie sollten mich mal erleben, wenn ich unfreundlich werde.« Dann erhob er sich. »Sie haben Glück, normalerweise mache ich keine Hausbesuche. Aber Sie klangen am Telefon so verzweifelt, dass ich eine Ausnahme gemacht habe.«
    »Ja, ich kann mein Glück kaum fassen«, murmelte ich.
    Oliver Menke kniete sich vor mich und leuchtete mir mit einem kleinen Lämpchen in die Augen. Ich blinzelte geblendet und stöhnte leise auf, weil das Orchester in meinem Kopf ein drohendes Crescendo andeutete.
    »Schön«, sagte der Heilpraktiker, »Pupillenreaktion normal. Das ist doch schon mal was.« Ein paar weitere Tests folgten, dann musterte er mich prüfend. »Ist nicht das erste Mal, oder? Waren Sie damit beim Arzt?«
    »Ja«, grummelte ich. »Alles abgeklärt. Ich war in MRTs, CTs, Weltraumtestarealen, was weiß ich wo. Ich bin völlig gesund. Sagen die.«
    »Sieht man«, sagte Oliver Menke trocken und stand auf. »Ich hol dann mal die Nadeln.«
    Ich beobachtete misstrauisch, wie er seine Tasche aufschnappen ließ und darin zu kramen begann. »Und Sie wissen, was Sie da tun? Also mit den Nadeln und so?«
    Oliver Menke richtete sich auf. »Genügt Ihnen ein Wochenendkurs an der VHS?«
    Ich sah, wie seine Mundwinkel amüsiert zuckten.
    Dann deutete er mit einem Nicken auf das Sofa. »Hinlegen. Den Rest mache ich.«
    *
    Der Morgen war trüb. Ganz Berlin lag wie unter einem dunstigen Schleier verborgen und nicht einmal der Fernsehturm war in der Ferne

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