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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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wenn Clara von Rieckhofen noch gar nicht tot war, als sie hier herkam? Was, wenn es ein Gefängnis war?«
    Ihre Worte legten sich über den Raum wie eine drückende Last. Die Frage war berechtigt. Hatte jemand Clara von Rieckhofen hier festgehalten? Und wenn ja, wann war das gewesen?
    Ich schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zusammen«, sagte ich und deutete auf den Blumenschmuck. »Die Lilien, die Kerzen. Es ist arrangiert wie für ein Totenbett.«
    »Wir können von Glück reden, dass hier noch keine Polizisten herumgestöbert haben«, sagte Mirella leise. »Sonst wäre wahrscheinlich nichts mehr an seinem ursprünglichen Platz.«
    »Auf einmal ist es also doch eine gute Idee, dass ich den Fall übernommen habe und nicht irgendein Ermittler?« Ich lächelte. »Mach die Spurensicherung mal nicht schlechter, als sie ist.«
    Mirella verzog die Mundwinkel. »Ich mache überhaupt niemanden schlecht. Für normale Todesfälle ist die Spurensicherung der Polizei ja auch hervorragend geeignet. Hier aber brauchen wir unsere Leute. Und niemanden, der sonst noch rumschnüffelt. Ich gebe nachher Simon Bescheid, er soll ein paar Leute vorbeischicken. Mal sehen, was die noch so finden.«
    »Mirella?«, unterbrach ich sie sanft.
    Sie hob den Kopf. »Ja?«
    »Können wir uns darauf einigen, dass dieses Zimmer noch ein paar Tage unberührt bleibt?«
    Mirella runzelte die Stirn. »Was soll das bringen?«
    »Bitte«, sagte ich und trat einen Schritt auf sie zu. »Ich würde gerne, wie soll ich sagen … herausfinden, was es mit diesem Ort auf sich hat. Und das kann ich nur, wenn ich noch ein wenig Zeit bekomme. Ohne dass sich hier etwas ändert.«
    Mirella presste kurz die Lippen aufeinander. Dann nickte sie. »In Ordnung. Bisher weiß niemand außer uns beiden von diesem Raum. Ich gebe dir Zeit bis zum Wochenende. Reicht das?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich ehrlich. »Ich hoffe.«
    Ich ließ meinen Blick durch das Gewölbe wandern und versuchte, ein Gefühl für das zu entwickeln, was hier vor sich ging. Ähnlich wie ich mich in die Atmosphäre des Speisesaals hatte hineinfallen lassen. Doch hier war irgendetwas anders. Ich bekam keinen Zugang. Und das war merkwürdig. Keine Bilder stiegen auf, keine Gerüche, keine Geräusche. Es war, als läge alles wie unter einen Schutzhülle. Oder war ich doch einfach aus der Übung und der erneute Versuch, mich auf eine solch tiefe Erkundung der Atmosphäre eines Ortes einzulassen, überstieg meine momentanen Kapazitäten? Möglich wäre es. Und deshalb war es gut, noch ein paar Tage Zeit zu haben, bevor die Spurensicherung der Akademie hier alles auseinandernahm.
    Das laute Knarren einer Tür riss mich aus meinen Gedanken. Es kam aus dem Treppenhaus. Mirella hatte es ebenfalls gehört, denn sie straffte sich. Unsere Blicke trafen sich und fast gleichzeitig legten wir den Zeigefinger an die Lippen.
    »Hallo?«, ertönte in diesem Moment eine Männerstimme. »Ist da jemand?«
    Mirella zog scharf die Luft ein. »Still!«
    Jemand kam die Stufen hinunter. Deutlich knirschten Kies und Geröll unter den Sohlen. Es musste eine Person mit festem Schuhwerk sein.
    Mirella und ich traten wie auf Absprache zur Tür und platzierten uns links und rechts davon.
    »Hallo? Ich weiß, dass jemand da ist«, rief der Fremde erneut, schon wesentlich näher bei uns als zuvor. »Ich habe Stimmen gehört. Sie können sich nicht verstecken!« Es sollte bedrohlich klingen, doch das nervöse Flattern in seiner Stimme war nicht zu überhören. Wer immer dort draußen stand, er fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut.
    Mirella biss sich auf die Unterlippe. Ich fühlte ihre vibrierende Anspannung bis in die Tiefen meines eigenen Nervensystems. Sie wartete, bis die Schritte des Mannes direkt hinter der Tür zu hören waren. Dann ging alles blitzschnell. Sie riss die Tür auf, stürmte aus dem Raum, packte den vollkommen überraschten Mann und drehte ihm beide Arme auf den Rücken.
    »Was soll das, wer sind Sie?«, schrie er und keuchte vor Schmerzen auf.
    Ich folgte Mirella aus dem Gewölbe und versuchte, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht aufzusetzen. Verdammt, sie schaffte es noch immer, mich zu beeindrucken. Früher hatten wir gewitzelt, dass es mit Sicherheit sie sein würde, die mich irgendwann aus einer lebensbedrohlichen Situation würde retten müssen. Die Heldenrolle war verteilt. Und definitiv an mir vorübergegangen.
    Ich musterte den Mann, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aus Mirellas

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