Die dunkle Seite des Weiß
sicher.«
»Und warum wurde er dann einfach so umgelegt? Das war doch kein Zufall«, flüsterte Mirella, nahm einen großen Schluck von dem Whiskey und verzog das Gesicht. »Furchtbares Zeug.«
»Erzähl das lieber nicht Hades, der gute Tropfen ist aus der Brennerei seines Cousins, oder so.«
Ich atmete tief durch. Auch, wenn ich lieber noch gewartet hätte, es machte keinen Sinn, Mirella die brisanten Details noch länger zu verheimlichen. Ich würde ihr erzählen, was ich wusste. Jetzt gleich. Und ich konnte nur hoffen, dass sie es verkraftete.
Mit großen Augen hörte sie mir zu, während ich von der Begegnung mit Ernesto am Vormittag erzählte. Ich ließ nichts aus, auch wenn ich ihr einiges sehr gerne erspart hätte. Aber es musste sein. Mirella und ich arbeiteten zusammen an diesem Fall, der immer weitere Kreise zog und nun offensichtlich ein weiteres Todesopfer gefordert hatte. Nichts und niemand auf dieser Welt konnte mir sagen, dass Ernestos Tod ein Zufall war. Er war aus dem Weg geräumt worden, weil er störte. Und vielleicht auch, weil er mir verraten hatte, was er wusste. Um diesen Fall zu lösen, mussten Mirella und ich auf der gleichen Höhe sein, das gleiche Wissen haben. Und wir mussten ehrlich zueinander sein. Vollkommen und gnadenlos ehrlich.
Nachdem ich geendet hatte, schwieg Mirella eine Weile. Ihr Blick ging zum Fenster, nach draußen, wo in der Ferne der Fernsehturm funkelte und leuchtete, als wäre nichts geschehen. Schließlich atmete sie tief durch. »Das heißt, er hat all das damals arrangiert? Um dich loszuwerden?«
Ich nickte stumm. Was hätte ich noch sagen sollen? Was geschehen war, sprach für sich selbst.
Mirella rang nervös die Hände. Es fühlte sich an, als wäre sie umgeben von einer zerbrechlichen Aura, die jeden Moment in Millionen winziger Scherben zerspringen konnte. Wie gerne hätte ich sie in diesem Augenblick in die Arme geschlossen. Aber ich wagte es nicht. Stattdessen saßen wir einfach nur da, gefangen in einer instabilen Blase aus Verletzung, Fassungslosigkeit und Wut.
Schließlich hob Mirella den Kopf und sah mir direkt in die Augen. »Ich glaube, ich muss ein wenig schlafen.« Ihre Stimme war tonlos und die Unergründlichkeit ihres Blickes schloss mich aus. Nie hatte ich sie so erschöpft erlebt. Und nie so verletzlich.
»Leg dich aufs Sofa«, sagte ich und stand auf. »Komm zur Ruhe. Oder versuch es zumindest. Ich bin in der Küche.« Ich legte Mirella eine Decke über, strich ihr sanft über die Wange – und es dauerte nicht lange, bis sie in einen unruhigen Schlaf gefallen war.
*
Es klingelte. Stirnrunzelnd wandte ich mich um. Ich hatte die letzte halbe Stunde am Küchenfenster verbracht, mit Blick in die Dunkelheit, und versucht, meine Gedanken zu ordnen. Mirellas Laptop hatte ich auf den Küchentisch gelegt, aber noch nicht angetastet. Ich hatte mich nicht durchringen können, es anzuschalten. Später. Später. Nur noch eine Minute Ruhe. Eine einzige Minute länger so tun, als wäre ich ein ganz normaler Mensch mit einem ganz normalen Leben. Kein Ermittler, der sich hoffnungslos in den zahllosen verwirrenden Fäden eines Falles verstrickt und den Überblick längst verloren hatte.
Erneutes Klingeln.
Ich seufzte leise. Das Letzte, was Mirella und ich jetzt gebrauchen konnten, war ungebetener Besuch. Wahrscheinlich war es Simon. Oder jemand von der Polizei, obwohl man uns versprochen hatte, uns heute noch in Ruhe zu lassen. Vielleicht würde ich sie überreden können, bis zum nächsten Tag auf unsere Aussage zu warten.
Ich ging zur Tür und öffnete. Doch es war nicht Simon, der draußen stand, und auch niemand vor der Polizei. Vor mir stand Emilie, ein wenig außer Atem, aber immerhin hatte ihr neunzigjähriges Herz sie bis in den vierten Stock bringen müssen, statt wie gewohnt nur in den Dritten.
»Hallo, Jakob«, sagte sie, während ihr Gesicht sich beim Lächeln in tausend kleine Falten legte. »Kannst du mir kurz helfen? Unten steht eine schwere Einkaufstüte. Ich schaffe das nicht alleine.«
»Wie hast du die denn vom Supermarkt herbekommen?«, fragte ich überrascht.
»Na wie immer, mit dem Taxi«, antwortete Emilie. »Aber dann habe ich vergessen, den Taxifahrer zu fragen, ob er sie mir nach oben bringt.« Sie klopfte sich mit den Knöcheln der rechten Hand gegen die Stirn. »Manchmal setzt es aus, da oben, weißt du.«
»Klar helfe ich dir«, sagte ich und angelte meinen Haustürschlüssel vom Flurregal.
»Danke«, lächelte Emilie
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