Die dunkle Seite des Weiß
neigte den Kopf und ich sah, wie sie die Augen zu schmalen Schlitzen verengte. »Warte einen Moment.« Dann glitt ein breites Lächeln über ihr hübsches Gesicht. »Du nimmst diese Suppe mit Rindfleisch. Richtig?«
Ich grinste. »Richtig. Siehst du, ich bin nicht der Einzige, der nicht vergisst.«
Wir saßen in einem unserer früheren Lieblingslokale mitten in Schöneberg. Es war noch früh am Nachmittag. Der Ansturm auf den Mittagstisch war soeben beendet und außer uns befanden sich nur noch wenige Menschen in dem vietnamesischen Restaurant. Durch die breiten Fensterfronten tanzte Licht und glitt in wandernden Sonnenflecken über den dunklen Holzboden.
Der Kellner kam. Wir bestellten unsere Gerichte und dazu Tee und Reiswein, der unverzüglich gebracht wurde. Mirella zog ihr Glas zu sich heran und drehte es vorsichtig zwischen den Fingern. Ihr Gesicht wurde plötzlich sehr ernst.
»Jakob, hör zu«, sagte sie gedämpft. »Wenn du denkst, dass sich vielleicht wieder etwas zwischen uns entwickeln könnte – mach dir bitte nicht zu viele Hoffnungen, ja? Alles was passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich das vergessen kann. Außerdem ist da noch Ernesto.« Sie musterte mich mit einer solchen Intensität, dass ich Schwierigkeiten hatte, ihrem Blick standzuhalten.
»Ich denke gar nichts«, erwiderte ich und leerte den Reiswein mit einem Zug. »Und ich erwarte auch nichts.«
Mirella verzog die Mundwinkel. »Das ist eine unverschämt dreiste Lüge.«
»Ja, ist es.« Ich stellte das Glas ab, beugte mich vor und blickte ihr fest in die Augen. »Aber gegen Hoffnungen lässt sich wenig tun, oder? Ein beratungsresistentes Pack, diese Hoffnungen.«
Mirella seufzte leise. »Ja. Ich weiß.«
Mir wurde mulmig. »Du denkst an Ernesto?«
Sie presste die Lippen aufeinander und nickte. »Es ist verrückt. Ich habe wirklich gedacht, es würde funktionieren. Aber wahrscheinlich war das eine Illusion. Ich wollte, dass es mit ihm und mir gut läuft. Weil er eben ganz anders ist als du.« Sie hob den Blick und ich sah, dass sich das Licht der Kerze in ihren Augen widerspiegelte. »Aber genau da liegt das Problem«, sagte sie leise. »Er ist eben nicht du.«
»Klingt, als dürfte ich mir doch noch jede Menge unvernünftiger Hoffnungen machen.« Ich lehnte mich zurück und gab mir Mühe, nach außen hin möglichst gelassen zu erscheinen, doch dieses Gespräch ließ mich alles andere als kalt. Hatte Mirella gerade eben zugegeben, dass ich ihr ebenfalls fehlte? Dass sie versucht hatte, ein neues Leben zu beginnen – ohne Erfolg? Wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass ausgerechnet Ernesto unsere Ehe zerstört hatte? Würde sie es verkraften? Ich war mir nicht sicher. Sie wirkte instabil, schwankend in ihrem Befinden. Und viel fragiler als früher.
»Sag mal«, sagte ich vorsichtig, »es ist schon ein wenig seltsam, dass die Medikamente nicht mehr anschlagen, oder? Hast du eine Erklärung dafür?«
Sie erwiderte nichts, sondern malte mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf die Tischplatte. Dann atmete sie tief durch. »Sie können gar nicht mehr anschlagen. Ich habe die Tabletten abgesetzt.«
Sie hatte was? Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Das kannst du doch nicht einfach machen«, entfuhr es mir.
Einige Restaurantgäste von den Tischen ringsum blickten verstohlen zu uns hinüber. Ich schluckte schwer und zügelte meine Stimme. Widersprüchlichste Empfindungen fluteten plötzlich in mir hoch. Mirella war erwachsen und ich hatte kein Recht, mich einzumischen. Doch die Medikamente einfach abzusetzen …
»Das ist Wahnsinn«, zischte ich eindringlich. »Du hast keine Ahnung, was dann mit dir passiert.«
Sie verzog die Mundwinkel. »Einen Vorgeschmack hatten wir ja schon, oder? Ich werde zu einem schizoiden Monster. Das wird passieren.«
Ich runzelte die Stirn. »Wie kannst du freiwillig die Medikamente weglassen? Erklär es mir.«
Mirella straffte sich. »Es gibt Dinge, die man durchmachen muss. Und ich bin nicht mehr bereit, mich davor zu drücken.«
Ich hob die Brauen. »Dich drücken? Ich verstehe nicht.«
Mirella lächelte traurig. Ich konnte deutlich wahrnehmen, wie schwer es ihr fiel, über diese Dinge zu sprechen. Doch sie fuhr fort. »Die Medikamente sorgen dafür, dass ich funktioniere. Dass ich mich nicht vollkommen verliere in dieser merkwürdigen kalten Persönlichkeit, die wie abgespalten in mir wartet. Aber das heißt nicht, dass dieser Teil nicht da ist. Und ich bin mir dessen bewusst. Jeden Tag mehr.
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