Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
Vom Netzwerk:
herumlarvieren.«
    Ich seufzte leise. Emilie war die Einzige, die von meiner Arbeit in der Akademie wusste. Wir waren schon so lange Nachbarn, dass es sich einfach irgendwann ergeben hatte, ihr davon zu erzählen. Bei Birnenschnaps an einem zweiten Weihnachtsfeiertag. Und ich wusste, ich konnte mir sicher sein, dass sie dieses Wissen mit ins Grab nehmen würde. »Vor dir kann man einfach nichts geheim halten, oder? Also gut. Ich brauche alle Informationen, die ich zu Heinrich Ewald bekommen kann. Und wenn du mir das Bild ausleihen könntest, dann wäre das großartig.«
    *
    Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, sah ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Licht im Flur brannte. Und dort, wo Mirellas Stiefel gestanden hatten, war nichts als der feine Rest eines Abdrucks von Straßenstaub. Auch ihr Mantel war weg. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Was war passiert?
    Langsam legte ich das gerahmte Bild, das Emilie mir mitgegeben hatte, auf dem Tischchen im Flur ab. Dann ging ich in jedes Zimmer, selbst in die kleine Abstellkammer neben der Küche, obwohl ich bereits wusste, dass es vergeblich sein würde. Mirella war nicht hier. Sie war gegangen und ich hatte keine Ahnung, wohin.
    Mein Blick streifte durch die Wohnung. Hatte sie mir eine Nachricht hinterlassen? Nein.
    Mirellas Laptop stand noch immer auf dem Küchentisch. Und er lief.
    Ich merkte, wie meine Kehle trocken wurde und trat langsam an den Bildschirm. Das Fenster für die Passwortortung strahlte mir entgegen. Mirella musste bemerkt haben, dass es im Hintergrund lief. Und hatte sich die Informationen auf den Monitor geholt.
    Ich stützte mich mit den Händen auf dem Tisch ab und musterte die Ergebnisse. Tatsächlich. Es hatte einen Treffer gegeben. Das Passwort war zuletzt vor zwei Tagen verwendet worden. Es gab also tatsächlich jemanden, der »Clara« für den internen Firmenbereich von KehPharma gebrauchte. Und zuletzt war dieser Zugang von einem Ort aus angewählt worden, bei dessen Gewahrwerdung ich ins Straucheln geriet. Meine Knie wurden für einige Sekunden merkwürdig weich.
    Es war die Klinik in Weißensee.
    Die Klinik.
    Meine Gedanken bewegten sich in Zeitlupe, wie unter Wasser. In dieser Klinik lag Wilms. Der Wachmann mit der chronischen Quecksilber- und Arsenvergiftung.
    Mirella hatte gesagt, dass Ernesto ihr im letzten Telefonat aufgetragen hatte, sich nochmals mit ihm zu befassen. Ein seltsames Gefühl beschlich mich. Es war, als würde irgendetwas unter der Oberfläche meines Bewusstseins bereits einen Zusammenhang erkennen – und nur eine hauchdünne Dimension trennte dieses Wissen vom Hier und Jetzt.
    Wilms. Was wussten wir von ihm? Nicht viel, außer dass er Wachmann war und krank. Doch da musste noch mehr sein. Es war unwahrscheinlich, dass jemand Anderes im Weißenseer Krankenhaus das Passwort nutzte. Ich erinnerte mich, wie Wilms Gesicht kurz schmerzlich gezuckt hatte, als Mirella ihm die Fotografie der toten Clara gezeigt hatte. Er kannte das Mädchen. Und anscheinend wusste er viel mehr über sie, als er zugeben wollte.
    Wie in Trance rief ich die Website von Dragonfight Security auf. Es gab eine Liste der Mitarbeiter, und bei jedem von ihnen ein Bild. Richard Wilms hatte ich innerhalb von Sekunden gefunden. Er trug seine Wachmannuniform, die Mütze auf dem Kopf und blickte ausdruckslos in die Kamera. Ich merkte, wie sich mein Herzschlag bei seinem Anblick beschleunigte, sprang so ungestüm auf, dass der Stuhl mit einem lauten Poltern umkippte und hastete in den Flur. Das Foto. Emilies Foto.
    Ich griff danach, rannte zurück und verglich das Bild des Doktor Ewald aus dem Jahr 1911 mit dem des Wachmanns auf der Website. Es dauerte Bruchteile von Sekunden. Dann drehte sich mir fast der Magen um.
    So verblichen das alte Foto auch war, die Gesichtszüge der beiden Männer stimmten überein. Deshalb hatte ich beim Anblick des Fotos an Emilies Wand das Gefühl gehabt, den Arzt schon einmal irgendwo gesehen zu haben! Der Wachmann, Richard Wilms, war definitiv nicht derjenige, für den er sich ausgab. Er war jemand ganz Anderes. Doktor Heinrich Ewald.
    Die Puzzleteile in meinem Kopf fügten sich in rasender Geschwindigkeit zusammen. Es war, als würde ich neben mir stehen und meinem Denken zusehen, das jede einzelne Information, jedes Gespräch, jedes Gefühl und jede Wahrnehmung der letzten Tage ineinandergreifen ließ. Bis das Bild stimmig war.
    Der Raum, in dem die Zeit stillstand. Der Ort, an dem Clara die

Weitere Kostenlose Bücher