Die dunkle Seite des Weiß
und tätschelte mir die Wange. »Bist ein guter Junge.«
Der gute Junge brachte die Einkäufe in Emilies Wohnung, wobei die eine angekündigte Einkaufstüte sich als drei Taschen entpuppte.
»Soll ich dir noch beim Einräumen helfen?«, fragte ich keuchend, als ich die schweren Beutel in Emilies Küche abstellte.
»Nein, lass nur, sonst finde ich später nichts wieder«, erwiderte meine Nachbarin. Dann griff sie in eine Tüte und holte eine Kekspackung hervor. »Aber sei so nett und bring die hier ins Wohnzimmer, ja?« Sie zwinkerte. »Die brauche ich später sowieso.«
Ich nickte und brachte die Kekse – feinstes Weizengebäck mit Orangenaroma – hinüber ins Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf den Fernseher, der mir so viele schlaflose Nächte bescherte, und für einen Moment war ich versucht, an den Anschlüssen herum zu manipulieren. Doch ich ließ es sein. Was hatte Emilie denn schon noch, außer ihrem Tatort?
Mein Blick wanderte nach oben, zur Zimmerdecke. Direkt im Stockwerk über mir lag nun Mirella auf meinem Sofa und schlief. Sie dort zu wissen, erfüllte mich mit einem merkwürdigen Gefühl von Glück. Auch wenn ich ansonsten den Eindruck hatte, uns umgäbe die trügerische Ruhe vor einem gewaltigen Sturm. In der Akademie würde die Hölle losbrechen, sobald der Tod von Ernesto die Runde machte … soviel war sicher. Und solange nicht geklärt war, wer ihn erschossen hatte, blieb ein mulmiges Gefühl. Wer sagte denn, dass Ernesto der einzige war, auf den man es abgesehen hatte?
Ich schüttelte den düsteren Gedanken ab und wollte gerade wieder zu Emilie zurück in die Küche gehen, als die Fotos an der Wand links von mir meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Unzählige gerahmte Schwarz-Weiß-Bilder zeugten von einem gelebten Leben. Emilie musste eine große Familie gehabt haben, viele Freunde. Und all das war lange her.
»Ist das hier deine Ahnengalerie?«, fragte ich, als Emilie ins Wohnzimmer getrippelt kam, und deutete mit einem Nicken auf die Fotografien. Ich war schon oft in dieser Wohnung gewesen, auf Tee und Kekse oder auch mal ein typisches Berliner Eisbein zur Winterzeit, doch die Bilder hatte ich mir nie genauer angesehen.
Emilie lachte. »Ja, kann man so sagen.« Sie kam langsam zu mir herüber.
»Hier«, sagte sie und deutete auf eines der Bilder, das einen leichten Sepiastich hatte. »Das sind meine Eltern. Und ich, da war ich noch klein. Es muss am Wannsee gewesen sein, glaube ich. Anfang der 1930er Jahre.«
Ich lächelte beim Anblick des kleinen Mädchens mit dunklen Zöpfen, das im Sand buddelte. Dann glitt mein Blick weiter über die Galerie. Und plötzlich stockte mir der Atem. Dort, ganz rechts außen, hing eine verblichene Fotografie, die mehrere Personen zeigte. Eine der jungen Frauen auf dem Bild hatte entfernte Ähnlichkeit mit Emilie. Doch sie konnte es nicht sein. Die Kleidung passte eher in die Zeit um 1910. Doch nicht das war es, was meinen Herzschlag beschleunigte. Es war das andere Mädchen auf dem Bild. Eine schmale, zerbrechlich wirkende Gestalt mit langen, blonden Haaren, die ihr glatt über die Schultern fielen. Erst glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Doch je länger ich auf das Bild starrte, desto mehr schwanden meine Zweifel. Dort, auf einem Foto an Emilies Bilderwand, war Clara von Rieckhofen zu sehen. Eindeutig.
»Ich weiß, meine Mutter war eine Schönheit«, lachte Emilie in diesem Moment. »Oder warum starrst du so?«
»Deine … Mutter?« Ich war so durcheinander, dass ich einen Augenblick brauchte, bis ich begriff, dass sie die junge Frau neben Clara meinte. Ich straffte mich. »Ja, sie ist wunderhübsch, wirklich. Jetzt weiß ich endlich, woher du das hast.«
Emilie lachte so sehr, dass es ihren gebrechlichen Körper durchschüttelte. »Du alter Charmeur.«
Ich tippte auf Claras Antlitz. »Und wer ist das hier, neben deiner Mutter? Kennst du dieses Mädchen?«
Emilie trat ein Stückchen näher, um das Bild besser betrachten zu können, und runzelte die Stirn, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. »Warte, lass mich überlegen … Doch, das muss diese Adlige sein.« Emilie richtete ihre wässrigblauen Augen auf mich. »Meine Mutter hat sie in Beelitz kennengelernt, in den Heilstätten. Ich erinnere mich daran, dass sie manchmal davon erzählt hat. Das Mädchen war ihre Zimmergenossin und sie waren eine Zeitlang unzertrennlich.« Ein Lächeln schob sich über ihr Gesicht. »Sie haben sich immer im Waschhaus versteckt, wenn sie keine Lust auf
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