Die dunkle Seite
sind.«
»Es war sein Vater«, sagte Vera. »Er hat...«
»Nein«, sagte Bathge mit Entschiedenheit. »Es ist die Ignoranz!
Immer und immer wieder. Ignoranz und der Mangel an Nachdenk lichkeit. Was Eltern ihren Kindern antun, ist eine Sache. Wie die Welt darüber hinweggeht, eine andere. Sie wird auch über Üsker und Solwegyn hinweggehen...« Er stockte. »Und über mich.«
»Nein!« sagte Vera.
Ihre Hand schob sich weiter über seine.
»Na und?« sagte er. »Machst du dir irgendwelche Illusionen? Wenige Monate vor der Jahrtausendwende wissen wir alles über jeden Fleck der Erde und haben nichts verstanden. Ich lag in meinem Hotelzimmer letzte Woche und zappte mich durch einen Haufen Programme. Spannend. Jedesmal unternimmst du eine Reise. Nur für wenige Minuten, aber die Kräfte des Elektromagnetismus tragen dich mühelos nach China oder auf den Mond. Goethes italienische Reise hat drei Jahre gedauert, wenn ich mich recht erinnere, und er kehrte zurück und meinte, die Italiener nicht in allem verstanden zu haben. Aber du liegst da und siehst Bilder aus China und denkst, hey, das ist China, das ist also China, und die Chinesen wollen alle Auto fahren. Schon bist du wieder weg aus China. Du wirst tausendmal behaupten, dir aus den Fetzen, die dich da erreichen, keine Meinung zu bilden, du tust es dennoch. Du siehst zwei Minuten China, aber du würdest ein Leben brauchen, um einen einzigen Chinesen wirklich zu verstehen, und dann wäre es vielleicht ein Ostchinese, denn die aus dem Süden sind schon wieder anders. Es folgen zwanzig Sekunden Kongo, und du weißt, in Afrika laufen verschreckte schwarze Menschen rum, weil die Stämme einander überfallen und Gemetzel anrichten, also ist in Afrika Gemetzel. Du müßtest Afrikanistik studieren und jahrelang dort leben, um nur den kleinsten Teil Afrikas zu begreifen, aber das kannst du nicht, da ist ja noch China und der ganze Rest, also versuchst du es erst gar nicht. Findest du das nicht reichlich sinnlos?«
»Nein. Die Welt würde nicht mehr funktionieren ohne global network. Du kannst nicht alles verstehen. Keiner kann das, aber früher haben die Leute auch nicht alles verstanden. Sie haben Hexen verbrannt, wenn sie was nicht verstanden haben. Dann mußt du grundsätzlich aufhören, dich zu informieren. Dann mußt du auf die Insel.«
»Da gibt es einen Unterschied, Vera. Was die Leute früher nicht verstanden haben, konnten sie nicht verstehen. Sie wußten nicht, was Elektrizität ist. Was ein Blitz ist. Es war niemand da, um es ihnen zu erklären. Aber heute kannst du alles verstehen, wenn du nur willst. Die Welt ist rational erklärt. Warum man nicht schneller reisen kann als mit Lichtgeschwindigkeit und möglicherweise wieder doch, wie Buckelwale sich verständigen und was ihre Laute bedeuten, wie ein Wirbelsturm entsteht und warum Spaghetti nie in einem zu kleinen Topf gekocht werden sollten. Alles kannst du nachlesen. Fünf Minuten Fernsehen reichen, dir das alles zu erklären.
Nur über den Menschen versteht der Mensch immer weniger, weil er glaubt, das würde genauso funktionieren wie mit den Buckelwalen und der Lichtgeschwindigkeit. Ich kann sie nicht ertragen, die ein ums andere Mal erschüttert sind, wenn irgendwo in der Welt was schiefgeht. Wir sind nicht mehr zu erschüttern. Im freien Fall der Unverbindlichkeit gibt es keine Erschütterungen. Diese Gesellschaft ist wie ein abgestorbener Zahn.«
»Der raus muß?«
»Es wäre höchste Zeit.«
»Komm mit, wir gehen mal in ein paar Wohnungen. Zu ein paar Leuten. Dann sag mir, ob das abgestorbene Zähne sind. Dieses gro ße kollektive Ungetüm, das du Gesellschaft nennst, wo ist das? Du hast selber gesagt, die Welt ist nicht abstrakt. Wenn du und ich und andere einen Lubold verbrochen haben, können wir das auch wiedergutmachen.«
»Wir könnten es, wenn wir lernfähig wären. Siebenundneunzig haben sie in Miami Gianni Versace erschossen, wenige Tage später seinen Killer, und der war schwul. Was haben wir also gelernt? Etwas über Schwule? Über Miami? Über die Wichtigkeit von Menschen? Drei Wochen später hat kein Hahn mehr nach Versace gekräht. Während des Golfkriegs berichtete CNN über den zufälligen Tod von zwei bis drei GIs, als gäbe es nichts anderes zu vermelden, während sie dem gleichzeitigen Absturz eines Zivilflugzeugs mit mehreren hundert Toten nur ein paar Sekunden widmeten. Wir können nicht lernen, wir können ja nicht einmal entscheiden, was wir sehen wollen.«
»Du kannst
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