Die dunkle Seite
und haben uns ständig erzählt, wie wichtig alles sei.
Wen soll das noch interessieren?«
»Sie«, sagte Vera und sah ihn an. »Es geht immerhin um Ihren Sohn.«
»Haben Sie was von ihm gehört?«
»Nein. Sie?«
Der Mann betrachtete sie prüfend. Er schien zu überlegen, ob er ihre Frage beantworten sollte oder nicht.
Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Niemand weiß, wo er geblieben ist. Warum kommen Sie jetzt nach all den Jahren und stellen diese Frage?«
Vera zog das Foto hervor und gab es der Frau. Sie beugte sich darüber, bis ihre Nasenspitze fast das Papier berührte.
»Das ist Andi!« rief sie überrascht. Offenbar hatte sie das Bild noch nie gesehen.
Der alte Marmann nahm es ihr wenig behutsam aus den Fingern und starrte es eine Weile an.
»Es ist Andi«, wiederholte sie wie ein Kind. Plötzlich klang ihre Stimme sehr weich. Sie zupfte ihn am Ärmel und sah zu ihm auf. Er schenkte ihr keine Beachtung, sondern fixierte weiter das Foto.
»Wo haben Sie das her?« knurrte er.
Vera zuckte die Achseln.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mir nicht helfen.«
Er schob angriffslustig das Kinn nach vorne. »Junge Dame, Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie glauben, daß wir an Andis Verbleib interessiert wären. Unser Sohn hätte was werden können.
Statt dessen zog er es vor, eine Bank zu überfallen und dann sang- und klanglos das Weite zu suchen.«
»Nachdem man ihn verhaftet hatte.«
»Er hätte die paar Jahre absitzen sollen wie ein Mann!« sagte der Alte zornig.
»Hat er sich nie bei Ihnen gemeldet?«
»Nein. Warum suchen Sie ihn überhaupt?«
»Ich habe den Auftrag, ihn zu suchen.«
»Von wem?«
»Ich darf vorerst keine Namen nennen. Tut mir leid.«
»Dann tutʹs mir auch leid.« Er grinste boshaft. »Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie uns nicht helfen.«
»Glauben Sie denn, daß Sie Andreas finden können?« fragte die alte Frau. Alle Härte war aus ihren Zügen verschwunden. Sie sah zu ihrem Mann hoch, verdrehte mühsam den Kopf, weil ihr zusamengepreßter Rücken es nicht anders zuließ.
»Sie wird niemanden finden«, sagte Marmann mürrisch.
Ihr Blick bekam etwas Flehendes. »Aber wenn...«, begann sie zaghaft.
»Nein!« Er schlug mit geballter Faust gegen den Türrahmen. »Andreas hätte bleiben sollen. Alles andere war falsch, ganz gleich, was er danach getan hat.«
»Was hat er denn danach getan?« fragte Vera schnell.
Er verstummte.
»Vielleicht finde ich ihn ja«, sagte Vera leise.
Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging mit hängenden Schultern wieder in den düsteren Flur.
»Verschwinden Sie«, murmelte er.
Seine Frau blickte ihm nach. Dann rückte sie ein Stück näher an Vera heran.
»Bitte sagen Sie mir ehrlich, warum Sie Andi suchen.«
Vera zuckte die Achseln. »Ich habe kein persönliches Motiv. Ein Freund hat mich beauftragt. Ein Freund von Andreas. Er hat ihn damals aus den Augen verloren.«
Sie nickte. »Können Sie mir den Namen dieses... Freundes sagen?«
»Nein. Beim besten Willen, nein.«
»Und dennoch glauben Sie, daß Sie uns helfen können.« Sie machte eine Pause. »Nein, nicht glauben. Sie behaupten es ja nur. Warum? Sie kennen uns doch gar nicht. Sie haben kein ehrliches Interesse an uns. Wobei wollen Sie uns helfen?«
»Ihren Sohn zu finden. Wäre das keine Hilfe?«
Die alte Frau starrte an ihr vorbei die Straße hinunter. Ihr Blick verlor sich zwischen den graugrünen Pflanzen in den Vorgärten.
»Andi hatte komische Freunde. Er«, sie wies mit schwacher Geste hinter sich, »Er« war offenbar ihr Mann, »tut ständig so, als sei es ihm egal. Selbst jetzt noch, nach all den Jahren. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, was in seinem Kopf vorgeht. Was er tun würde, wenn Andi jetzt in der Tür stünde.« Plötzlich verzogen sich die müden, verquollenen Züge zu einem Lächeln, und sie sah Vera an.
»Sie müssen entschuldigen. Wir wissen wirklich nichts.«
»War Ihr Sohn ein guter Junge?« fragte Vera. Ungewollt mischte sich Zynismus in ihren Tonfall.
»Gut?« Frau Marmann zögerte. »Jedes Kind ist gut, wenn es das eigene ist.«
»Ja, natürlich.«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Dieser Überfall. Und wenn schon! Hatten Sie nie das Gefühl, sich revanchieren zu müssen, wenn alle auf Ihnen herumtrampeln?«
Vera suchte nach einer Antwort, die ihr ein >Doch< ersparen würde.
»Sind Sie auch auf ihm herumgetrampelt?« fragte sie statt dessen.
»Sie und Ihr Mann?«
Sie wußte, daß sie zu weit ging. Aber
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