Die dunkle Seite
Antwort«, sagte Vera. »Sie wollen ihren Sohn.«
»Unsinn«, entgegnete Solwegyn mit plötzlicher Heftigkeit. »Jahrelang haben sie sich einen Dreck darum gekümmert, wo er steckt.
Und plötzlich wollen sie ihn wiederhaben?«
»Späte Reue. Was weiß ich? Soweit ich unterrichtet bin, haben sie schon vor Jahren Detektive beauftragt.«
»Und jetzt Sie?«
»Jetzt mich.«
»Wie ungewöhnlich. Sind Sie sicher, daß der Auftrag nicht von Marmanns Schwester kommt?«
»Die kennen Sie auch?« staunte Vera. »Donnerwetter. Woher?«
Solwegyn lächelte dünn. »Madame! Wir sollten das Protokoll einhalten. Augenblicklich stelle ich die Fragen. Steht Ihr Auftrag in irgendeiner Verbindung mit Üskers Tod?«
Das klang nach Falle.
Veras Gedanken überschlugen sich. Sie war drauf und dran, die Frage zu bejahen. Es war hübsch einfach, aus dem Tod des Türken elterliche Besorgnis für seinen ehemaligen Kampfgefährten abzuleiten.
Zu einfach.
»Nein«, sagte sie statt dessen. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Marmanns überhaupt eine Ahnung haben, wer Üsker war.«
»Sie wissen nichts«, sagte Solwegyn geringschätzig. »Andis Vater trägt seit Jahren einen absurden Stolz vor sich her, der es ihm verbietet, ihn weiterhin seinen Sohn zu nennen. Er würde die Wahrheit gar nicht vertragen. Aber gut. Sie dürfen Fragen stellen.«
Offenbar hatte er beschlossen, ihr zu glauben. Katya zwinkerte Vera aufmunternd zu.
»Es gibt nur eine Frage. Wo ist Andreas Marmann?«
»Er ist tot.«
Vera verschlug es die Sprache.
Solwegyn nickte.
»Er ist tot, weil er es so wollte. Wir sprechen von seiner Identität.
Sagen wir einfach, Andreas Marmann wurde in einem Reißwolf beigesetzt.«
»Also ist er doch nicht tot?«
»Wie manʹs nimmt.«
»Er lebt unter falschem Namen?«
Solwegyn legte den Kopf schief und öffnete mit fatalistischer Gebärde die Handflächen.
»Was ist schon falsch? Spätestens wenn Sie in einem städtischen Vorposten der Legion auf Ihre Rekrutierung warten, haben Sie beschlossen, Ihr ganzes bisheriges Leben zu verneinen. Warum nicht postulieren, alles bis zu diesem Augenblick sei falsch gewesen, und jetzt erst hebe sich der Schleier der Täuschung von den Tatsachen?«
»So läuft das also bei der Legion.«
»So kann es laufen. Sie müssen sich nur ein paar Dinge ins Gebetbuch schreiben. Ihre Eltern sind gar nicht Ihre Eltern, weil in Wahrheit die Legion Ihre Familie ist. Sie sind auf den falschen Namen getauft worden, und der Pfarrer war ein Schwindler. Ihr ganzes bisheriges Dasein war eine tragische Verkettung von Irrtümern, Mißverständnissen und Lügen. Ein Andreas Marmann, um ihn exemplarisch zu zitieren, hat einzig in seiner Phantasie existiert.«
»Klingt eher nach Gehirnwäsche, finden Sie nicht?«
»Die Legion? Ich bitte Sie. Die meisten Hirne dort sind viel zu klein, als daß sich eine Wäsche lohnte. Die Legion kann einen Menschen zerbrechen. Sie kann ihn töten. Aber im Grunde zwingt sie ihn zu nichts.«
»Ich habe anderes gehört.«
Solwegyn erbebte unter verhaltenem Gelächter.
»So? Was denn?«
»Daß Deserteure gejagt und krankenhausreif geschlagen werden, wenn sie sich schnappen lassen. Was noch nicht das Schlimmste ist.«
Katya starrte Vera in gespieltem Erschrecken an. Dann grinste sie wie über einen guten Witz.
»Passen Sie mal auf«, sagte Solwegyn herablassend. Er beugte sich vor und legte die Unterarme auf die Knie.
»Wenn ein Mensch beschließt, zur Fremdenlegion zu gehen, ist das eine sehr einsame Entscheidung. Selbst wenn er in eine Horde Gleichgesinnter kommt. Den letzten Ruck hat er sich selber geben müssen. Es vergehen Wochen, bis überhaupt die Eignungstests beginnen. Spätestens hier beschleicht ihn der Verdacht, daß die Legion auf jede nur erdenkliche Weise bestrebt scheint, seinen Eintritt zu verhindern. Und eben das tut sie. Sie schafft Barrieren. Sie sondert aus. Sie will nicht jeden, sondern die Besten. Was meinen Sie? Klingt das nach Zwang?«
Vera schwieg.
»Dann schickt man ihn nach Castelnaudary zur Grundausbildung. Vier Monate, die er nie vergessen wird. Man nimmt ihm seine persönliche Habe und sagt ihm, daß man sie verkaufen wird. Der Hintergrund ist die Eliminierung seiner bisherigen Identität, nicht seiner Persönlichkeit. Auch jetzt hat er wieder die Wahl. Bitte verstehen Sie, was ich Ihnen damit nahebringen will. Wenn wir uns über Legionäre unterhalten, müssen Sie wissen, daß diese Männer freiwillig und in völliger Geistesklarheit alle
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