Die dunkle Seite
Büro darauf stieß. Ich erzählte der Person davon, und sie bat mich, die Kopie zu machen.«
Menemenci wiegte den Kopf.
»Sie wissen, daß Sie das in allergrößte Schwierigkeiten bringen kann.«
»Ich weiß«, sagte Roth unglücklich.
»Wer ist die Person?«
»Sie heißt Vera Gemini. Detektivin. Sehr fähig, sehr integer. Früher hat sie in meiner Abteilung gearbeitet, ich kenne sie gut.« Er sah Menemenci an. »Ich habe Vera gebeten, mich da rauszuhalten. Aber sie ist ein bißchen wie eine Tochter, verstehen Sie? Ich meine, sie hat einiges durchgemacht, und jetzt ist sie endlich auf geradem Kurs.
Ich wollte die Ermittlungen nicht behindern, es war einfach nur ein persönlicher Gefallen, damit sie in ihrer Sache weiterkommt.«
»Vera Gemini«, sinnierte Menemenci.
»Das ist die Wahrheit.«
»Gut. Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«
Zerknirscht gab Roth wieder, was er von Vera erfahren hatte. Am liebsten hätte er sich pausenlos geohrfeigt. Dennoch schaffte er es irgendwie, Veras Klienten rauszuhalten. Auf Menemencis Frage, ob er ihren Auftraggeber kenne, antwortete er wahrheitsgemäß mit einem Nein.
Es war das einzige, was er noch für sie tun konnte. Aber sie würde Menemenci reinen Wein einschenken müssen.
Nachdem Roth geendet hatte, saß Menemenci eine Weile still da und sah vor sich hin. Dann griff er in sein Jackett, zog das Foto hervor und zeigte auf den Mann mit dem Gewehr.
»Das ist also Andreas Marmann?«
Roth überlegte. »Vera sagt, er sei es.«
»Sonst jemand darauf, den Frau Gemini zu kennen glaubt?«
»Nein. Nicht daß ich wüßte.«
»In Ordnung. Hören Sie, Roth, Sie haben mein Verständnis als Mensch, nicht aber als Polizist. Ist Ihnen das klar?«
Roth sackte in sich zusammen.
Menemenci musterte ihn scharf. Dann erhob er sich und steckte das Foto wieder ein.
»Danke für Ihre Zeit«, sagte er freundlich. »Ich werde darüber nachdenken.«
Das warʹs dann, dachte Roth. Herzlichen Glückwunsch.
Menemenci ging zur Tür und hielt inne.
»Vielleicht lassen Sie sich hin und wieder von Frau Gemini auf den letzten Stand bringen. Falls sie nicht kooperieren will, könnten Sie sich ja als Doppelagent versuchen. Ich meine, Sie hat von unserem Wissen profitiert. Ab jetzt informieren Sie mich über das, was sie weiß. Finden Sieʹs irgendwie raus. Wie gesagt, ich möchte Ihnen keine Schwierigkeiten machen. – Wenn es sich vermeiden läßt.«
Mit einem Lächeln, so wie er gekommen war, verließ der Kommissar den Raum.
12.45 Uhr. Red Lion
Solwegyn hatte recht gehabt. Zweimal fuhr sie an der grüngestrichenen Toreinfahrt vorbei, die sich mit den Hecken entlang der Straße zu einem monotonen Streifen verband. Ein Stück weiter entdeckte sie einen kleinen Parkplatz. Sie stellte den Wagen ab, schloß das Verdeck und ging die paar Schritte zurück. Links von dem Tor war ein schmaler verschlossener Durchgang. Dahinter konnte sie das Dach eines villenartigen Hauses ausmachen.
Neben der einzigen Klingel stand in kleinen Druckbuchstaben: RED LION. PRIVATCLUB.
Auch hier kein Ymir Solwegyn.
Sie klingelte.
Eine Weile tat sich nichts. Vera schätzte, daß man sie beobachtete.
Sie ließ den Blick wie zufällig schweifen und suchte das Tor und die mächtigen Bäume ab. Zwischen zwei Astgabelungen, außer Reichweite und hoch genug, um auf eventuelle Besucher herabblicken zu können, entdeckte sie die beiden elektronischen Augen. Vermutlich kontrollierten sie ein gutes Stück der Straße.
Etwas summte. Sie drückte gegen die schmale Tür und trat ein.
Vor ihr erstreckte sich eine Wiese, die zu einer Terrasse anstieg. Eine Auffahrt führte vom Tor zu einer großen Garage rechts vom Haus.
Zwischen der Villa und der Garage öffnete sich ein Rundbogen, dahinter schien sich das Grundstück fortzusetzen.
Die Villa selber war im Stil der Sechziger erbaut. Erdgeschoß, zurückgesetzter erster Stock, ebenfalls mit Terrasse. Großzügige Fensterfronten mit zugezogenen Gardinen.
Das Ganze machte den Eindruck eines gepflegten, etwas biederen Anwesens.
Vielleicht doch ein Geschäftsclub?
Vera ging die Auffahrt hoch und schaute sich um. Die Haustür war geöffnet, aber keiner schien sie zu erwarten. Sie sah ins Innere und trat, als immer noch niemand auftauchte, um sie zu begrüßen, ein.
Ihre Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das Dämmer‐
licht zu gewöhnen. Dann sah sie zu ihrer Überraschung, daß ein einziger großer Raum das Erdgeschoß einnahm. Wo früher Wände gewesen sein
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