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Die dunkle Treppe

Die dunkle Treppe

Titel: Die dunkle Treppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Fitzgerald
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ist Papas Doppelgängerin.«
    »Ist sie das auf dem Foto in deinem Zimmer?«
    »Wann hast du das gesehen?«
    »Als ich reingekommen bin, um nachzuschauen, was es mit dem Lärm auf sich hatte … Sie sieht aus wie du«, sagte Pete.
    »Sie hat Glück gehabt. Sie hat die tollen Haare und die langen Beine abbekommen. Und das helle Köpfchen.«
    »Sie sieht genau aus wie du«, sagte Pete.
    »Nein, ich bin die Doppelgängerin meiner Mutter.«
    Bronny sagte Pete nicht, dass ihre Mutter acht Jahre zuvor gestorben war. Sie verzichtete darauf, ihre lebhafteste Erinnerung zu beschreiben: das erstickte Geräusch, mit dem ihre Mutter um Luft gerungen hatte, als sie ins Schlafzimmer gerannt war, und wie ihre Mutter eine zehnjährige Fremde am Fußende des Bettes angeschrien hatte: »Wer ist das? Schafft die hier raus!« Sie erzählte ihm nicht, dass sie bei ihrem Tod nicht geweint hatte, weder bei der Beerdigung noch bei späteren Besuchen auf dem Friedhof, niemals seitdem. Sie hatte ihre Tränen bei sich behalten, und sie waren zu winzigen Kugeln versteinert. Manchmal fühlte sie die winzigen, harten Steinkugeln in ihrem Magen.
    »Sie muss sehr schön sein«, sagte Pete.
    »Mmm.« Ehe alles in Schrecken umschlug, war ihre Mama tatsächlich eine schöne Frau gewesen.
    Bronny erzählte Pete jedoch ein paar andere Sachen. Von der Schinkenfabrik, wo sie einmal in der Woche Speckscheiben zum Sonderpreis kaufte und den traurigen Anblick der Schweine zu ignorieren versuchte, die entweder dicht gedrängt in Gattern vor dem Gebäude standen oder drinnen in Kesseln brodelten.
    Sie erzählte ihm von dem Tag, an dem sie den Lunapark in St. Kilda besucht hatten. Ursula hatte seit Jahren darum gebettelt, dass sie hinführen, und ihr Vater hatte schließlich nachgegeben und drei Ganztageskarten gekauft.
    »Ich war fünfzehn«, sagte Bronny und erzählte, wie sie nicht nur während der gesamten Autofahrt herumgemosert hatte – »Ich will da nicht hin! Ich will da nicht hin!« –, sondern sich auch geweigert hatte, in irgendeine der Achterbahnen und Geisterbahnen zu steigen.
    »Ich habe mit verschränkten Armen unter einem riesigen Schlund gesessen«, sagte Bronny.
    Als ihr Vater zum zwanzigsten Mal herausgekommen war und sie gebeten hatte, sich wenigstens versuchsweise zu amüsieren, hatte sie sich zu einem Eis überreden lassen. Während die Bedienung blauen Sirup über das Eis goss, sah sie, dass Ursula an der berühmten alten Achterbahn aus Holz anstand. Sie rannte zu der Warteschlange, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, aber als sie dort ankam, saß Ursula bereits im ersten Wagen. Bronny sprang über die Abtrennung und schrie sie an, dass sie aussteigen solle. Menschen stürben bei solchen Fahrten! Blieben mit dem Kopf nach unten stecken und stürben! Sie zerrte Ursula am Kragen, indes die Betreiber den Sicherheitsdienst riefen.
    »Sie haben eine lebenslange Besuchssperre über uns verhängt«, sagte Bronny zu Pete. »Ursula hat drei Wochen lang nicht mehr mit mir gesprochen.«
    Bronny erzählte ihm, wie sie in der Schule gerade so über die Runden gekommen war und als Archivkraft in der Münzanstalt gearbeitet hatte. Sie glaubte ihm anzumerken, dass er sich fragte, warum sie im Vergleich zum Rest ihrer Familie so wenig zustande gebracht habe, und sie entschuldigte sich schon dafür, ehe er überhaupt fragen konnte.
    »Ich habe nie kapiert, was ich an einer Uni soll. Warum soll ich mich dafür abrackern?«, sagte sie.
    Sie erzählte ihm, dass der obdachlose Mr Todd immer glücklich gewirkt habe. Er hatte so lange auf der Erde geschlafen, dass er schließlich wie ein Teil der Landschaft wirkte. Genau wie das alte Gefängnisgebäude aus blauschwarzem Sandstein, aus dem angeblich Ned Kellys Vater getürmt war.
    »Was ist aus Mr Todd geworden?«, wollte Pete wissen.
    »Irgendein Gutmensch hat ihn sich geschnappt und in eine Anlage für betreutes Wohnen gesteckt. Sie haben ihn gebadet und den Schmutz abgeschrubbt, und dann ist er gestorben.«
    »Einfach so?«
    »Ich denke, es war der Schmutz, der ihn zusammengehalten hat.«
    »Ich möchte dir etwas zeigen.« Pete half ihr vom Boden hoch. Sie gingen zur anderen Seite des Parks, überquerten einige Straßen, schlenderten erst an Geschäften und Cafés, dann an Häusern und kleinen Gärten vorbei. In einer kleinen Gasse hinter einer Reihe großer, weißer Stadthäuser blieb Pete stehen.
    »Riech mal«, sagte er.
    Bronny schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein.

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