Die dunkle Treppe
noch nie zuvor gehört hatte, und es würde auf einem einzelnen weißen Blatt Papier stehen. Ich schluckte und sah zu, wie der »Ein«-Schalter des Faxgeräts rot zu blinken begann. Sie kommt, sie kommt … da ist sie.
Das Blatt ruckte Stück für Stück aus der Maschine. Ich sah den Schatten ihrer Geisterschrift, die sich Zeile um Zeile auf der Rückseite abzeichnete.
»Sie wollte, dass du das liest, nachdem du die Testergebnisse bekommen hast«, sagte Papa.
Ich hätte am liebsten geschrien: »Schick mir nicht den Brief einer Toten, das ist doch Scheiße.« Ich hätte am liebsten geschrien: »Nein, es hat nichts mit der hochgeworfenen Münze zu tun. Ich bin gerade einem Psychopathen entkommen!«
Aber jetzt war die Seite mit der Schriftseite nach unten im Papierhalter gelandet.
Papa erwartete eine Reaktion von mir, aber ich schwieg.
»Bronny?«
»Ja?«
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch … Ich rufe jetzt im Krankenhaus an.«
»Melde dich gleich danach.«
»Klar.«
Ich legte auf und sah mir Mamas Brief an. Sie hatte gewollt, dass ich ihn erst nach dem Ergebnis lese. Aber hier waren sie, die Wörter meiner toten Mutter – des Menschen, an den ich jede Stunde, jeden Tag gedacht hatte, der mich allein gelassen hatte, als ich eine schrecklich lange Wartezeit erdulden musste. Immer hatte ich gewartet. Jetzt hatte ich genug gewartet.
Ich nahm den Brief aus der Maschine und las.
He, mein kleiner Wirbelwind!
Ich sitze auf der Veranda und gucke Dir beim Dreiradfahren zu. Wir haben gerade ausgerechnet, dass Du in 79½ Tagen vier Jahre alt wirst! Du hast lockiges Haar und ein breites Lächeln.
Ich bin der Tankwart, und als Du zum Volltanken vorgefahren bist, habe ich Deine kleinen Knubbelbäckchen gepackt und Dich geküsst.
Ich bin jetzt nicht mehr bei Dir, oder? Ich kann Dir bei dieser ganzen Geschichte nicht mehr helfen. Das tut mir unheimlich leid.
Ich war achtzehn. Meine Mutter hat mich geholt, weil mein Vater sich nicht gut gefühlt hat. Ich weiß heute noch ganz genau, wie ich mich damals gefühlt habe. Das Vorher und das Nachher, und ich bin mir nicht mal sicher, ob das Vorher besser war als das Nachher. Ich war am Boden zerstört. Aber dann fühlte es sich an, als ob ich ein neues Paar Beine bekommen hätte. Man lernt, noch mal zu gehen – es fühlt sich anders an, aber es klappt.
War es falsch von mir, dass ich mich in Deinen Vater verliebt habe? Ich hatte nichts dergleichen vorgehabt, aber als er mich von diesem Ball der Chocolate Association nach Hause begleitete, konnte keiner von uns etwas dagegen tun.
War es falsch, zum ersten Mal schwanger zu sein? War es falsch, zu sehen, wie Ursula mich mit strahlenden Augen anlächelte (ich war mir sicher, dass sie lächelte), lange bevor Kinder so etwas überhaupt können?
Und Dich zu bekommen? War das falsch?
… Oh, entschuldige bitte. Du bist gerade von Deinem Dreirad gefallen, und ich musste Dir ein Pflaster aufs Knie kleben. Jetzt fährst Du sogar noch schneller als vorher. Ich hoffe wirklich, dass Dir Deine Abenteuerlust nie abhandenkommt.
Ich habe überlegt, ein Video aufzunehmen, aber dann habe ich mir vorgestellt, dass Du es Dir immer wieder anschaust, dass Du es zurückspulst und vorspulst, und diese Vorstellung hat mir nicht gefallen. Stattdessen schreibe ich Dir diesen Brief, damit Du fühlst, dass ich bei Dir bin, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Ich bin bei Dir, mein kleines Mädchen. Ich bin bei Dir. Und alles wird gut.
Ich bin ein glücklicher Mensch. Gesegnet. Ich habe Dich lieb.
Für immer, Deine Mama
XXXXXXXX
Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in meine Tasche. Dann googelte ich das Krankenhaus und wählte die Nummer.
»Er ist noch nicht da«, sagte die Krankenschwester.
Ich las die Ziffern vom Telefon des Porchester ab, legte den Hörer auf und schaltete den Computer aus. In einer Stunde würde mich Dr. Gibbons zurückrufen.
In einer Stunde würde das Zwanzigcentstück auf dem Boden aufschlagen.
38
Zimmer Nummer eins, Celias Zimmer, befand sich am Ende des zweiten Stocks, gleich neben der Feuertreppe. Sie lag auf der Intensivstation: sieben Zimmer zu jeder Seite des Gangs, mit einer Schwesternstation in der Mitte. Polizeischutz gab es für Celia nicht, denn weil der Täter hinter Gittern saß, bestand kein Grund zur Sorge. Und weil auf der ganzen Station nur ein einziger weiterer Patient lag, war alles still und leer, abgesehen von gelegentlichen Anrufen und der Überprüfung
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