Die dunklen Engel (German Edition)
wirst umkommen.»
«Dann bin ich bei Lucille.»
Diese dumme Antwort hatte ihr gereicht. Er lief vor seiner Verantwortung davon. Sie waren nicht sehr freundschaftlich auseinandergegangen. Sie wollte nicht, dass er ging, doch sie konnte ihn nicht daran hindern, und am Ende war es auch eine gewisse Erleichterung, dass der große, schwarzgekleidete Gitan mit ihm abreisen würde.
An einem kalten Novembermorgen nahm sie Abschied von Toby. Sie umarmte ihren Bruder fest. Sie hatten sich immer nahegestanden und waren sich stets zärtlich zugetan gewesen; erst diese letzten Wochen hatten, wie es Campion schien, eine Mauer zwischen ihnen errichtet. «Pass gut auf dich auf, Toby.»
«Mir passiert schon nichts.»
Der Zigeuner in seinem schwarzen Mantel war bereits aufgesessen. Sie blickte zu ihm auf, und bei diesem letzten Blick spürte sie wie damals bei ihrem ersten, wie dieser Mann mit seinen blauen, unergründlichen Augen und seiner ganzen Persönlichkeit mit ungebremster Wucht in ihrer Seele einschlug. Kalt nickend wünschte sie ihm eine sichere Reise, verlieh ihrer Stimme dabei, wie immer in seiner Gegenwart, einen sachlichen Ton.
Er lächelte und antwortete mit seinem starken Akzent auf Englisch: «Vielen Dank, Mylady.»
Dann umarmte Campion Toby noch einmal, schloss die Augen und drückte ihn. Sanft zog er sich zurück und stieg in die Reisekutsche. Er fuhr der von ihm selbst gewählten Aufgabe – seinem Rachefeldzug – entgegen, und Campion sah der großen, schwarzen Gestalt nach, die neben der Kutsche herritt, bis sie hinter dem Torhaus verschwand. Sie waren weg, und Campion hatte das Gefühl, eine Last sei von ihr genommen.
Doch an den langen Abenden, wenn ihr Vater dem Trost des Alkohols nachgegeben hatte und das Schloss zur Nacht langsam zur Ruhe kam, stand sie manchmal vor einem großen, heidnischen Porträt von Narziss, das im großen Saal des Schlosses hing, und glaubte in dem alten Gemälde das hochmütige, intelligente, markante Gesicht zu erkennen, das sie so sehr vermisste. Der Narziss auf dem Gemälde war nackt, und sie schämte sich, dass sie sich von dem starken, schlanken Körper angezogen fühlte. Und gleichzeitig wunderte sie sich darüber, dass sie, die so beherrscht war, so vernünftig, so nüchtern, feststellen musste, dass ihre Gefühle so unkontrollierbar von einem gewöhnlichen Stallburschen in Beschlag genommen wurden. Er war der Zigeuner, und er war in ihre Träume geritten, um sie traurig zu machen.
Ihr Vater sah es. An einem hellen, kalten Morgen Ende November schaute er sie von seinem Bett aus an. «Was liegt dir auf der Seele?»
«Nichts.» Sie lächelte. Sie wollte nach draußen und war gegen die winterliche Kälte in Mantel und Pelz eingewickelt.
«Du siehst aus wie ein Hund, der seine Nase verloren hat. Bist du verliebt?»
«Nein, Vater!» Sie lachte.
«Das geschieht Menschen manchmal.» Er verzog das Gesicht, als Schmerzen es durchzuckten. «An einem Tag sind sie vollkommen vernünftig, am nächsten geistern sie herum wie kranke Kälber. Es ist nichts, was durch eine Heirat nicht zu kurieren wäre.»
«Ich bin nicht verliebt, Vater.»
«Nun, du solltest es aber sein. Es wird Zeit, dass du heiratest.»
«Du hörst dich schon an wie Onkel Achilles.»
Er betrachtete sie voller Zuneigung vom Kopf bis zu den Füßen. «Es müsste doch jemanden geben, der dich heiraten würde. Du bist nicht vollkommen hässlich. Da wäre zum Beispiel Lord Camblett. Er ist blind, also nimmt er dich vielleicht.»
Sie lachte. «Und der Kurat in Dorchester, der mich für die neue Putzmacherin im Ort gehalten hat.»
«Er hat sich in die Hosen gemacht, als er herausgefunden hat, wer du bist.» Ihr Vater lachte. «Der arme Trottel. Warum hast du es ihm nicht gesagt?»
«Er war sehr süß, als er mich durch die Kirche geführt hat.» Der Kurat, nervös und voller Hoffnung, hatte sie von der Kirche nach draußen begleitet, wo eine vierspännige Kutsche auf sie wartete und Postillion und Stallburschen sich vor der jungen Frau verbeugten, die er für eine Putzmacherin gehalten hatte. Campion lächelte. «Wenn ich es ihm gesagt hätte, wäre er nur noch nervöser gewesen. Manchmal ist es ganz schön, behandelt zu werden wie alle anderen.»
«Ich kann dich jederzeit aus dem Schloss werfen», sagte ihr Vater erwartungsvoll. Sie lachte, und er nahm ihre Hand. «Du bist nicht traurig?»
«Nein, Vater.» Wie konnte sie ihm von dem Zigeuner erzählen? Er würde sie für verrückt halten. «Außer dass
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