Die dunklen Engel (German Edition)
stets sehr akkurat.»
«Aber ich werde ablehnen, Mylord.»
«Einverstanden, Mr. Owen. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Bitte, lüften Sie nicht die ganze Kutsche durch, wenn Sie gehen!» Lord Paunceley zitterte ostentativ, als der Waliser ging. Bevor das nächste Opfer kam und bevor er sich wieder dem Buch in seiner Tasche zuwandte, notierte er sich die Einzelheiten über das Treffen und das Schiff, das Lord Werlatton nach Hause bringen sollte. Ich werde alt, dachte er bei sich, mein Gedächtnis ist längst nicht mehr das, was es mal war. Als alles festgehalten war, steckte er Bleistift und Notizbuch weg und lehnte sich für weitere unmittelbarere und unterhaltsamere Vergnügungen zurück.
In einer Mainacht, einer warmen und herrlichen Frühlingsnacht, saß Campion an einem Tisch in der langen Galerie. Die Fenster standen offen, und die Vorhänge bauschten sich träge wie ein Reigen seltsamer Geister.
Der größte Teil der Galerie lag im Dunkeln. Auf ihrem Tisch unter dem Porträt der Nymphe brannten einige Kerzen. Die Flammen zitterten in der sanften Brise.
Vor ihr auf dem Tisch lagen vier Schmuckstücke.
«Ich liebe ihn, ich liebe ihn nicht, ich liebe ihn, ich liebe ihn nicht», sagte sie laut, traurig und langsam und schob dabei die Schmuckstücke eines nach dem anderen von links nach rechts. Jedes Schmuckstück hatte eine lange, goldene Kette, die über den Tisch schleifte. Die Juwelen von Lazen.
Es waren Siegel. Die goldenen, mit Juwelen besetzten Zylinder hatten an der unteren Schnittfläche jeweils einen stählernen Stempel. Eine Prägung stellte das Beil dar, mit dem der Apostel Matthäus enthauptet worden war, die nächste, das Siegel des Apostels Markus, einen geflügelten Löwen, das dritte, das Lukas-Siegel, zeigte einen geflügelten Ochsen mit erhobenem Kopf, während das letzte den Giftkelch darstellte, um dessen Stiel sich eine Schlange wand, das Symbol für den Apostel Johannes.
Sie schaute zu dem Porträt der Nymphe hinauf. Die erste Gräfin, die erste Campion, trug diesen Schmuck um den Hals. Es hieß, dass dieser Schmuck, die Siegel der vier Apostel, einst das Schicksal von Lazen bestimmt hatten, seine ganze Zukunft.
Die Goldzylinder ließen sich aufschrauben. Jedes Siegel enthielt ein zweites, in Silber gefertigtes Symbol, doch die Bedeutung dieser versteckten Symbole war längst in Vergessenheit geraten. Im Matthäus-Siegel steckte ein Kruzifix, im Siegel des Apostels Markus eine nackte Frauengestalt, im Siegel des Apostels Lukas ein winziges Schwein, nur das Siegel des Apostels Johannes war leer. Irgendwann einmal war etwas darin gewesen, doch jemand hatte das Symbol herausgenommen.
Campion schraubte das Siegel des Apostels Johannes auf und fuhr mit dem Finger über die rauen Kanten der kleinen Krallen, die das gehalten hatten, was einst darin gewesen war. Etwas fehlte. Eine merkwürdige Traurigkeit überkam sie.
Wenigstens ist der Zigeuner weit fort, dachte sie. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass ihre unwürdige Verrücktheit vorüber war, dass sein Gesicht nur noch eine blasse Erinnerung war und ihre Scham ein Geheimnis, das in einer vergessenen Vergangenheit versank. Doch sie hatte ihn nicht vergessen. Bei dem Gedanken – der Hoffnung –, dass der Zigeuner mit Toby zu diesem Anlass nach Lazen kommen würde, graute ihr regelrecht vor ihrer Hochzeit. An dem Tag, an dem sie überglücklich sein sollte, würde sie gezwungen sein, dieses Gesicht zu sehen, das sie immer wieder heimsuchte, und die schreckliche, beschämende, geheime Sehnsucht spüren.
Langsam verschraubte sie die beiden Hälften des Johannes-Siegels. Dieses Haus war einst belagert worden, und all das nur wegen dieses Schmucks. Jetzt wurde er in einer verschlossenen Kiste in einem verschlossenen Raum aufbewahrt, und Campion bezweifelte, dass er seit langer Zeit überhaupt jemandem unter die Augen gekommen war.
Wohl wahr, die Zeiten der Ritterlichkeit sind dahin, dachte sie, Sophisten, Ökonomisten und Rechenmeister sind an ihre Stelle getreten.
Bald würde sie verheiratet sein.
Sie berührte die Siegel, eines nach dem anderen. «Ich liebe ihn, ich liebe ihn nicht, ich liebe ihn.» Mit dem Siegel des Apostels Johannes in der Hand hielt sie inne, bevor sie es langsam zu den anderen legte. «Ich liebe ihn nicht.»
Die Dienstboten lächelten sie anders an, als hätte die bevorstehende Heirat sie verändert. Es war das Ende der Kindheit, vermutete Campion, ihre Initiation als Frau stand kurz bevor,
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