Die dunklen Farben der Begierde (German Edition)
Sie war ein richtiges Miststück; dachte immer, sie wäre was Besseres als alle anderen. Es wäre ihr glatt zu gönnen, dass ihr jemand den Tee klaute.
«Nimmt Miss Carr ihr Mittagessen im Bett ein oder bei Tisch wie alle anderen?», erkundigte sich Kitty.
«Am Tisch», grummelte die Köchin. «Also sieh zu, dass du ihn gedeckt bekommst.»
Kitty eilte hinüber in die Wäschekammer, um Tischtuch und Servietten zu holen. Tante Hester wurde wirklich von Tag zu Tag wunderlicher. Jeder wusste, dass der Lakai in ihrem Bett ein und aus ging, und die alte Jungfer schien entschlossen, dort so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Wann immer sie aufstand – um zu essen oder ein Glas Wein mit der Haushälterin zu trinken –, waren ihre Augen verklärt vor Wonne. Kitty war überzeugt davon, dass sie auch Laudanum nahm. So gut konnte Ellis nun auch wieder nicht sein.
Das Krachen des Türklopfers hallte durch das Haus. Kitty schnappte sich den halbgefüllten Wäschekorb und schoss, mit den gemurmelten Worten, dass sie wohl ein paar Laken vergessen habe, die Treppe hinauf. Wieder war es Mr. Ardenzi. Kitty schlenderte den Flur entlang und trällerte dabei einen Gassenhauer. Ellis drehte sich nach ihr um und sah sie genervt an. Kitty grinste.
Gabriel gab dem Diener einen Umschlag. «Für Miss Longleigh», sagte er munter.
«Vielen Dank, Sir», antwortete Ellis und hüstelte in seine geballte Faust. «Ich bin sicher, darüber wird sie sich sehr freuen.»
Kitty ging auf sie zu. «Ich bin gerade auf dem Weg nach oben, Mr. Ellis», sagte sie und strahlte ihn an. «Ich kann ihn ihr gern bringen, wenn Sie möchten. Bestimmt kann sie ein bisschen Aufheiterung gebrauchen, die Ärmste. Hat niemanden zur Gesellschaft bei sich, außer dem Schnupfen. Na, wenn Sie mich fragen: Das ist die Luft hier in London. Geht einem direkt durch …»
«Danke, Kitty», schnauzte Ellis sie an. «Aber das ist wirklich nicht nötig.» Er steckte den Brief in seine Brusttasche. «Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Miss Longleigh ihn bekommt.»
«Na bitte, dann eben nicht», sagte sie. «Ich wollte Ihnen doch bloß den Weg abnehmen.»
Meine liebste Clarissa,
es quält mich zutiefst zu hören, dass Dir nicht wohl ist, fast so sehr, wie es mich quält, nicht bei Dir sein zu können. Allerdings lässt es mich auch erleichtert sein, denn als Du nicht zu dem vereinbarten Treffpunkt in Cremorne kamst, waren nur allerlei Dämonen zur Stelle, um mir meine Frage nach dem Warum zu beantworten. Der grässlichste und lauteste von allen sagte mir, dass Du mich nicht länger liebst. Meine wundervolle Blüte, mein kostbares Juwel, alles könnte ich ertragen, nur das nicht. Bitte, ich flehe Dich an, schick mir eine Nachricht, um mir zu sagen, dass …
Clarissas Blick wurde undeutlich. Erst eine Träne, dann noch eine tropfte auf das Papier, machte aus Worten langbeinige Spinnenwesen aus Tinte. Sie wandte sich ab und heftete ihre Augen fest auf eine Reihe in Kalbsleder eingebundener Bücher, um sich zu sammeln. Das Schuldgefühl und die Scham, die sie gehabt hatte, als sie gestern erwacht war, schienen im Vergleich dazu ein Nichts gewesen zu sein.
«Möchtest du, dass ich es dir vorlese?», fragte Lord Marldon und langte quer über den großen Bibliothekstisch, um ihr den Brief abzunehmen.
«Nein», flüsterte sie. Sie hatte Gabriel betrogen; sie hatte ihre Liebe besudelt durch armselige Lasterhaftigkeit.
«Bist du sicher?», fragte er. «Es ist wirklich und wahrhaftig ein anrührendes Schriftstück.»
«Nein», sagte sie erneut mit leiser, verzweifelter Stimme. Einen Tag und eine Nacht lang hatte sie Lord Marldon nicht zu sehen bekommen. Er hatte sie allein gelassen, mit nichts als Kummer und Gewissensbissen zur Gesellschaft. In diesen leeren, einsamen Stunden hatte sie sich selbst gescholten, dass sie ihren Begierden so zügellos gefolgt war. Aber jetzt ging sie, verzweifelter als je zuvor, mit sich selbst ins Gericht, dass sie diese Begierde überhaupt spürte. Sie empfand Lord Alec als gefährlich anziehend. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, ihn zu begehren; sie konnte sich selbst nicht davon abhalten, sich vorzustellen, welche Grausamkeiten er ihr noch zufügen würde. Und selbst jetzt, wo Gabriels Liebesschwüre durch ihre Gedanken kreisten, wusste sie, dass sie wieder nachgeben würde.
Marldon stellte ein Tintenfass neben ihre Hand und legte ein Blatt Papier vor sie hin. Er strich ihr das offene, wellige Haar über die Schultern zurück und
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