Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)
alter Medizinflaschen. ‚Auripigment’ war aufgedruckt, darunter eine chemische Formel. Er stellte die Phiole beiseite und befreite die übrigen Behälter aus ihrer Verpackung.
Azurit, Lapislazuli und Zinnober. Pigmente, so kostbar wie Gold. Daneben legte er die Erden, weit weniger teuer, doch schwer zu beschaffen, weil nur bestimmte Lagerstätten in Frage kamen. Grüne Erde aus Böhmen, Burgunder Ocker, Umbra aus Deutschland. Die Fläschchen bargen einen Schatz.
Sehnsüchtig stellte er sich vor, wie er sie öffnen würde und den kostbaren Inhalt benutzen, um sein Bild zum Leuchten zu bringen.
Aber noch war er nicht so weit.
Nach einiger Zeit verflüchtigte sich der Essiggestank im Atelier. Über Nacht ließ Henryk die Fenster aufstehen. Die frostige Luft vertrieb die Säure und ließ die Flüssigkeiten in den Flaschen und Gläsern gefrieren.
Die Tulpen und Mohnblüten fielen zusammen. Bedauernd schob Henryk die Vase zur Seite. Martha war seit Tagen nicht zu erreichen. Seine Anrufe gingen ins Leere.
Er drehte die Staffelei so, dass Sonnenlicht darauf fiel. In der Nacht hatte er sich in den Blumen verloren. Was für eine merkwürdige Konjunktion. Er hatte die echten Blüten studiert und ihre Essenz aufgesogen und sie auf die Leinwand gebannt. Vielleicht war es so, dass er ihre Seele von einer in die andere Hülle transferiert und damit ihre Existenz in der Realität beendet hatte. Das war eine beunruhigende Idee.
Henryk starrte minutenlang auf die verdrehten Stängel. Die Blütenblätter schillerten bräunlich und verströmten leichten Fäulnisgeruch.
Auf der Leinwand hingegen blühten sie, konserviert für die Ewigkeit.
Verstört richtete er seine Aufmerksamkeit zurück auf Marthas idealisiertes Antlitz. Die Vorstellung war verrückt, entbehrte aber nicht einer morbiden Faszination. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
9
Nach weiteren zwei Tagen rief sie endlich an.
Als er ihre Stimme erkannte, verbarg er seine Erleichterung nicht.
Martha klang belustigt. „Natürlich geht es mir gut. Warum?“
„Ich konnte Sie nicht erreichen“, stieß Henryk hervor. Die Silben stolperten. „Ich dachte ...“ Er verstummte. Dann, ruhiger: „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich dachte. Ich bin einfach froh, Sie zu hören.“
„Ich war auf Reisen.“
Seine Sorge, ihr könnte etwas zugestoßen sein, erschien ihm plötzlich kindisch. „Ich möchte nicht lästig sein.“
„Gibt es etwas anzusehen?“, fragte sie.
„Wenn Sie heute oder morgen vorbeikommen können“, seine Zuversicht kehrte zurück, „würde ich Ihnen gern etwas zeigen.“
Er hörte ihr Schweigen, dann raschelndes Papier. Sie blätterte in ihrem Kalender.
„Es stinkt auch kaum noch nach Essig hier“, fügte er hinzu.
Sie lachte. „Hat es geklappt?“
„Was?“
„Die Sache mit dem Bleiweiß.“
„Hat es.“
„Sie sind ein Genie, wissen Sie das?“
Verlegen schwieg er.
„Heute Abend“, sagte Martha. „Ich verschiebe einen Termin. Ich komme zu Ihnen.“
Sie war früh dran. Früher, als er erwartet hatte.
Als sie an der Tür klingelte, stand er noch unter der Dusche. Er trocknete sich nur halb ab und schlüpfte hastig in Jeans und T-Shirt. Wasser rann ihm aus dem Haar und sammelte sich in seinem Nacken.
„Ich komme gleich“, rief er, als die Klingel ein zweites Mal anschlug. Barfuss eilte er durch den Raum. Er nestelte an der Schließe seines Armbands, bis es mit einem metallischen Geräusch zuschnappte.
Martha lächelte, als er die Tür öffnete. Er folgte ihrem Blick hinunter zu seinen nackten Füßen, und fühlte sich auf einmal verletzlich.
„Sie haben Ihren Mantel gar nicht an“, sagte sie.
Unwillkürlich musste er lächeln. Dann wurde ihm bewusst, wie seltsam das war. Von jedem anderen hätte diese Bemerkung ihn irritiert, vielleicht sogar beleidigt. Für einen Moment trat Stille ein.
„Kommen Sie rein.“ Er machte eine entschuldigende Geste. „Ich habe Sie erst in einer Stunde erwartet.“
„Sie haben Recht.“ Martha zog den Mantel aus und warf ihn aufs Sofa. „Es riecht wirklich kaum noch nach Essig.“ Sie hob eine Augenbraue. „Wenn man es mit dem Zustand von vor ein paar Tagen vergleicht.“
Er bemerkte die Schatten unter ihren Augen. „Sie sehen müde aus“, sagte er.
„Charmant wie immer.“ Martha gab ihm ein halbes Lächeln. „Ich wusste, in meinem Leben hat etwas gefehlt, bevor ich Sie kennen
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