Die dunklen Gassen des Himmels: Bobby Dollar 1 (German Edition)
»Erzengel Temuel, was haben Sie zu sagen? Immerhin sind Sie Doloriels Betreuer.« Chamuel hatte bisher nicht viel mehr gesagt als Raziel. Sein inneres Feuer war gedämpft, jedenfalls in meiner Wahrnehmung, aber er vermittelte einen Eindruck von Tiefe und Ernst – wenn man auf seine himmlische Erscheinung blickte, spürte man etwas Weites und Ehrfurchterweckendes gerade jenseits des Sichtbaren.
Der Mull nahm sich einen Moment Zeit, um seine Gedanken überzeugend zu arrangieren, jedenfalls hoffte ich, dass er das tat: Es konnte auch sein, dass mein persönlicher Erzengel dazu ansetzte, mich unter den Bus zu stoßen. »Es ist mir eine Ehre, dass das Heilige Ephorat meine Meinung zu hören wünscht«, sagte er schließlich. »Doloriels professionelle Fähigkeiten sind gut. Es stimmt, er kann manchmal etwas eigenwillig sein, aber wie Sie wissen, ist das bei denjenigen, die dem Himmel in der Zeit und auf der Ebene irdischer Existenz dienen, öfter der Fall. Und wie wir alle wissen, können solche Charakterzüge in manchen Situationen auch nützlich sein. Ein demütigerer Geist wäre vielleicht dem Verfolgerdämon erlegen.«
»Ein demütigerer Geist wäre gar nicht erst verfolgt worden«, erklärte Terentia. Ich fand das eine Spur unfair, sagte es aber natürlich nicht.
»Dann ist es vielleicht Zeit, Doloriel in unsere Mitte zurückzuholen«, sagte Anaita. »Vielleicht wäre es ja ein Akt der Güte, ihm zu erlauben, in die Himmlische Stadt heimzukehren und frohlockend in der Nähe des Höchsten zu leben wie wir alle.«
Und beim Klang ihrer sanften Jungmädchenstimme wollte ich das einen Moment lang wirklich, trotz allem, was mich zu dem macht, der ich bin. Ja , dachte ich, holt mich für immer in den Himmel zurück. Lasst mich hier leben und mich dem Licht und der Wärme und der Gewissheit anheimgeben. Keine Fragenmehr, keine Verantwortung mehr, nie mehr die Angst, eine Seele, die mich braucht, im Stich zu lassen … Es schien wirklich das Allerschönste, was mir passieren konnte. Aber nur einen Moment lang. Dann war ich drüber weg.
Ich sagte: »Sie sind zu gütig, Ephora.« Aber es war schon alles wieder anders, und ich wollte nur weg von diesem unsagbar schönen und wonnevollen Ort und zurück auf die stinkende, gefährliche, unberechenbare Erde. Denn dort war mein Job, nicht hier oben in den strahlenden Straßen und friedlichen Gärten des Paradieses.
Vielleicht bekam das Ephorat meine Gedanken ja irgendwie mit. Alle fünf verstummten, und ihr Feuer schien jetzt etwas schwächer, was ich so deutete, dass sie sich von mir abgewandt hatten und wieder unter sich konferierten. Ich sah zu Temuel hinüber, doch auch er hatte sich in sich zurückgezogen, und seine Lichtessenz schien heruntergedimmt. Zeitlosigkeit hin oder her, ich hatte das Gefühl, ganz schön lange zu warten, bis wieder jemand etwas sagte.
»Gehen Sie zurück, Doloriel, und tun Sie, was Ihnen der Höchste aufgegeben hat«, sagte das kristallene Funkeln der Hoffnung und des Trostes, das Terentia war. Erleichterung durchflutete mich, nicht ganz so lebhaft wie Freude, aber doch sehr real. »Seien Sie sich jedoch bewusst, dass Ihre Eignung für diese Aufgabe in Frage steht und unser Urteil noch nicht abschließend ist. Wandeln Sie mit Vorsicht. Gott liebt Sie.«
Ich beugte den Kopf, als die fünf Engel nacheinander die Hand ausstreckten und mich berührten, wobei eine feurige Entladung übersprang, und dann waren sie weg und mit ihnen das ganze Anaktoron. Temuel und ich fanden uns mitten auf der großen Durchgangsstraße wieder, die unter dem Namen Singender Weg bekannt ist, und die sanft murmelnden himmlischen Passantenströme umstrudelten uns wie Phantome aus Licht und Nebel.
»Das war knapp, Doloriel«, sagte Temuel. »Ich glaube nicht, dass ein zweites Ephorat so nachsichtig sein wird, also versuchen Sie, von jetzt an ein bisschen tiefer zu fliegen, ja?«
Darauf hatte ich nicht wirklich etwas zu sagen, aber ich murmelte eine Art Versprechen. Jetzt, da die Gefahr der Auflösung meiner Person zumindest für den Moment vorbei war, schockierte es mich umso mehr, wie kurz davor ich gewesen war.
»Noch etwas«, sagte Temuel. »Ich habe nicht alles mitbekommen, was zwischen Ihnen und dem Ephorat hin- und herging. Haben sie Sie nach den Magianern gefragt? Oder fiel der Name Kephas?«
Beides war mir absolut neu, und ich fragte mich, ob Temuel innerhalb einer komplexen Strategie die Rolle des guten Bullen hatte – mich jetzt also weiterbehandeln sollte,
Weitere Kostenlose Bücher