Die dunklen Gassen des Himmels: Bobby Dollar 1 (German Edition)

gelegentlich den Fall, dass ein Engel (oder auch ein Dämon) nicht aufersteht. Das ist meinem ersten Mentor Leo passiert, und Ankläger Grasswax hatte gerade erst ein weiteres eindrückliches Beispiel für dieses Phänomen geliefert. Es wird nicht groß drüber geredet, jedenfalls nicht im Himmel, aber jeder weiß, dass es vorkommt: Ab und zu wird ein Engel vernichtet und kann nicht wieder zurückgeholt werden. Die Bosse sagen immer, diese Art »nicht abgesicherter« Tod (haben sie nicht charmante Euphemismen?) beruhe auf üblen Machenschaften der Gegenseite, aber ich habe im Lauf der Jahre einige Kollegen wispern hören, er scheine auffallend oft Unruhestifter zu ereilen – die Sorte Engel, die der Himmel nicht wirklich vermisst. Blasphemie, ich weiß, aber ich gebe ja nur weiter, was ich von anderen gehört habe. Ich muss allerdings hinzufügen, dass diese anderen es meist deshalb in meiner Gegenwart sagten, weil sie befürchteten, ich könnte irgendwann auch zu diesen »Problemengeln« gehören.
    So viele Fragen. Eine, die mir gerade gekommen war, lautete: Warum ein solches Monster, das doch selbst für einen starken Höllendiener einen enormen Energieverlust bedeutete? Warum schickten sie nicht einfach ein paar unbedarfte Dämonen oder menschliche Geister mit Uzis? Mit entsprechender Feuerkraft könnte man doch so ziemlich jeden erdbasierten Engel töten.
    Das zog einen äußerst beunruhigenden Gedanken nach sich. Was machte mich so sicher, dass das Etwas mich hatte töten sollen? Die noch viel beängstigendere Möglichkeit war doch, dass es ausgeschickt worden war, um mich gefangen zu nehmen.
    Diese Gewichtung rührte daher, dass Ankläger Grasswax zwar am Ende gestorben, davor aber offensichtlich gefoltert worden war. Und selbst wenn es um die Hölle geht, ist die Liste der dafür in Frage kommenden Motive kurz: schlichte sadistischeRachsucht, die Absicht, ein Exempel zu statuieren, oder aber das Bestreben, Informationen aus dem Opfer herauszuholen. Da anzunehmen war, dass zwischen meiner momentanen Bedrängnis, der rätselhaften Walker-Sache und dem grausigen Tod des Anklägers Grasswax (der diesen höchstwahrscheinlich deshalb ereilt hatte, weil jemand hatte wissen wollen, was er über ebenjene Walker-Sache wusste) ein wie auch immer gearteter Zusammenhang bestand, war ich mir ziemlich sicher, dass ich mich von diesem Etwas noch weniger gern gefangen nehmen als töten lassen wollte – und ich will mich gar nicht gern töten lassen.
    Da meine Engelssubstanz nach einigem Wandern durch die Gefilde leidlich erquickt und nicht mehr so unmittelbar an der Grenze ihrer Belastbarkeit war, ließ ich mich das letzte Stück in die Himmlische Stadt versetzen, ohne dass der Vorgang in meiner subjektiven Wahrnehmung irgendwelche Zeit brauchte. Bei dieser Art des Transports gelangt man nicht nahezu-sofort von A nach B, sondern mehr-als-sofort – vielleicht so wie diese Teilchen, die an verschiedenen Orten gleichzeitig sein können. Man … na ja, schimmert an einem Ort, bis man an einem anderen schimmert, besser kann ich’s nicht ausdrücken. Jedenfalls, als ich in Temuels Büro erschien, war es genau der Moment, in dem ich erwartet wurde, aber mein Vorgesetzter schien trotzdem nervös und ungeduldig.
    »Kommen Sie, Doloriel«, sagte er. Er war eindeutig erregt: Sein Licht war ungleichmäßig, verwischt wie ein Weihnachtsbaum hinter einem nassen Fenster. »Sie warten auf uns.«
    Gleich darauf hatten wir das Labyrinth aus Licht, das Sie bereits als Kalifornien-Gebäude kennen, und dann ebenso schnell den gesamten Nordamerika-Komplex verlassen und befanden uns vor dem imposanten Tor eines Palasts, den ich noch nie gesehen hatte oder an den ich mich jedenfalls nicht erinnern konnte.(Es ist wie gesagt schwer, sich an Details des Himmels zu erinnern, wenn man wieder in seinem sterblichen Körper steckt: Sooft man in den Himmel zurückkehrt, ist irgendwie alles völlig neu.) Das riesige Gebäude war aus reinem Adamant, was der himmlische Ausdruck für »Diamantbrocken, so groß wie ein Berg« ist. Und tatsächlich ragte es turmhoch in den himmlischen Himmel, der von einem schönen, aber lichteren Blau ist als der irdische und außerdem von Sternen durchglänzt. Das Leuchten von Seelen, die sich in dem Gebäude umherbewegten, war durch die Wände sichtbar.
    »Das Anaktoron der dritten Sphäre«, erklärte Temuel, und die unterdrückte Anspannung in seiner Stimme sagte mir alles, was ich nicht schon über diesen Ort wusste –