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Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman

Titel: Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry , K. Schatzhauser
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hatte, war aber nicht das Geschlecht jenes Menschen gewesen, sondern die Qual, die er in dessen Augen und den Linien um den Mund herum erkannt hatte. Einen Augenblick lang hatte er in diesem ihm völlig fremden Menschen eine offene und entsetzliche Wunde gesehen.
    Warum eigentlich säuberte er die Grabplatte? Er hatte keinerlei Erinnerungen an den Urgroßvater, da er ihn nie kennengelernt hatte, und so bestand auch nicht die geringste persönliche Beziehung zwischen ihnen. Es hatte wohl damit zu tun, dass der Name Dandolo darauf stand. Er stellte eine Verbindung zu einer Vergangenheit her, die unabhängig von seiner Mutter war. Seiner Mutter, der Byzantinerin, die nichts von ihm hatte wissen wollen.
    Er verließ das Gotteshaus mit raschen Schritten, als wisse er, wohin er wollte. In Wahrheit hatte er kein bestimmtes Ziel; er wollte lediglich aufwärtsgehen, bis er eine Stelle erreichte, von der aus er über das Meer blicken konnte. Stets lenkte er seine Schritte dorthin, denn von dort konnte er sehen, wie das Licht auf dem Wasser glänzte, wo ihn der unendliche Horizont lockte. Es kam ihm vor, als könne er damit seinen Geist befreien.
    Was hatte er eigentlich in Konstantinopel zu finden gehofft? Die Stadt war ihm fremd, so orientalisch und dekadent, dass es ihn nicht die allergeringste Mühe kosten würde,
sie zu hassen, aus seinem Herzen zu reißen und nach Venedig zurückzukehren. Ja, genau das war es: Er wollte ohne innere Bewegung an seine Mutter denken können, denn in sich erkannte er nichts von ihr.
    Er kam an eine Art kleinen Platz. Von ihm aus ließ sich das ständig wechselnde Muster von Wind und Wellen beobachten, wenn das Wasser der Gezeiten durch die Meerenge zwischen Europa und Asien strömte. Die Oberfläche des Meeres sah aus wie Pinselstriche eines Malers, die sich bewegten und wie ein Lebewesen gleichmäßig pulsierten. In der Luft, die lau über seine Haut strich, nahm er einen leichten Salzgeruch wahr.
    Die Stadt, die dort unter ihm lag, war einerseits wie Venedig und zugleich völlig anders. Auch wenn ihre Bauten weniger großartig waren, fanden sich dennoch Anklänge an seine Heimatstadt. Da war die überschäumende Lebenskraft ihrer Bewohner, die wichtige Rolle, die der Handel spielte, das Bemühen um einen günstigen Geschäftsabschluss, das Taxieren des Wertes, Kaufen und Verkaufen. Außerdem war das Meer auch in Venedig allgegenwärtig, mit all seiner Gefahr, Schönheit, Grenzenlosigkeit, seinen zahllosen Möglichkeiten.
    Doch diese Ähnlichkeiten waren nur oberflächlicher Art. Ihm war bewusst, dass er nicht dorthin gehörte. Niemand kannte ihn wirklich, er hatte lediglich kurze freundschaftliche Beziehungen wie die mit Andrea Mocenigo gepflegt, der ihn gastfreundlich in seiner Familie aufgenommen hatte. Doch so wie ihn hätten sie auch jeden anderen behandelt. Das Gefühl, in Konstantinopel fremd zu sein, gab ihm die Freiheit zu wachsen, sich zu verändern, wenn er das wollte, neue Gedanken in sich aufzunehmen, und seien sie noch so abwegig und töricht.

    Zugehörigkeit bedeutete Sicherheit, zugleich aber auch Einengung. Nichtzugehörigkeit war gleichbedeutend mit Freiheit, einem Horizont, der in unendlicher Ferne lag, und dem Gefühl, dass die Füße die Erde nicht spürten. Doch sie bedeutete zugleich, dass er keine Wurzeln hatte, und oft, wenn er überhaupt nicht damit rechnete, empfand er eine nahezu unerträgliche Einsamkeit.
    Nach wie vor konnte er die Leidenschaftlichkeit und den Kummer auf dem Gesicht des Eunuchen nicht vergessen, der ihm in der Hagia Sophia zugesehen hatte. In seinen Blicken hatte eine Zärtlichkeit gelegen, die ihn geradezu verfolgte.
    Er nahm sich vor, nach Hause zurückzukehren, sobald er die im Auftrag des Dogen gesammelten Angaben geordnet und bewertet hatte.
    Als das von Giulianos Stellvertreter geführte Schiff zurückkehrte, war er zum Aufbruch bereit. Soweit er das beurteilen konnte, hatte er alle Erkundigungen eingeholt, die er brauchte. Während er sein Gepäck nach dem Abschied von Mocenigo und seiner Familie zum wartenden Karren trug, kam es ihm vor, als begebe er sich erneut auf eine Flucht. Worin hatte seine eigentliche Aufgabe in Konstantinopel bestanden – für den Dogen Material zu sammeln oder das Byzantinische Reich gründlich kennenzulernen, damit er sich ihm verweigern konnte?
    Er schob die Gedanken beiseite – immerhin stand er im Begriff, nach Hause zurückzukehren.
    Die Überfahrt ging rasch vonstatten, und schon Mitte August erblickte

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