Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Mittel dagegen? Das würde ihr ausgesprochen guttun.« Wie selbstverständlich ging sie bis zu den Tarsus-Türen neben ihr her. »Übrigens auch allen um sie herum«, fügte sie hinzu.
Doch kaum hatten sie das Innere betreten, verhielt sich Zoe, als habe Anna aufgehört zu existieren, und trat an das Grabmal des Dogen Enrico Dandolo. Glühender Hass legte sich auf ihre Züge; ihre Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, und ihre Lippen kräuselten sich wütend. Ihr ganzer Körper war verkrampft, und sie spie mit aller Kraft auf die Grabplatte mit dem verhassten Namen. Dann ging sie mit hoch erhobenem Kinn davon.
Ohne nach links und rechts zu sehen, strebte sie einer der äußeren Kolonnaden entgegen, wo sie mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen vor einer Ikone der Jungfrau Maria stehen blieb.
Anna, die leicht links von ihr stand und daher ihr Gesicht erkennen konnte, empfand eine Sehnsucht nach etwas,
was auf immer dahin war, einen Kummer um etwas, was nicht sein konnte. Sie fühlte sich schuldig, weil sie selbst es von sich gegeben hatte, nicht mit einer Geste des Großmuts oder als Opfer, sondern voll überschäumender Wut. War dafür eine Vergebung denkbar? Sie ging davon, während ihr heiße Tränen über das Gesicht liefen.
Als sie auf dem Weg nach draußen erneut am Grabmal des Enrico Dandolo vorüberkam, sah sie einen Mann, der sorgfältig mit einem Tuch den Speichel Zoes und anderer abwischte, die dort ihrem Hass Luft gemacht hatten. Er hielt inne, hob den Blick zu Anna und erkannte den Schmerz in ihren Augen.
Wieder ging eine Frau vorüber und spie auf die Grabplatte, ohne auf ihn zu achten.
Er wandte sich um und machte sich geduldig daran, sie abermals zu säubern.
Anna blieb stehen und sah ihm zu. Er hatte schöne, kräftige und schmale Hände und widmete sich seiner Aufgabe, als sei nichts Besonderes geschehen.
Sie betrachtete sein Gesicht mit den starken Wangenknochen und dem verletzlich wirkenden Mund. Sie stellte sich vor, dass er voll Vergnügen lachen konnte, wenn es einen guten Anlass dazu gab. Jetzt allerdings war nichts Entspanntes an ihm, sie sah nur eine tiefe Einsamkeit.
Diese nahezu unerträgliche Einsamkeit empfand auch Anna, die nach außen hin weder Mann noch Frau war, ein Mensch, der völlig allein stand und den vielleicht nur Gott liebte – doch vergeben hatte Er ihr noch nicht.
KAPİTEL 23
Als Giuliano Dandolo ins Freie trat, schien er weder die Sonnenhitze noch das grelle Licht wahrzunehmen. Es war erst sein zweiter Besuch in der Hagia Sophia. Im unteren Teil der riesigen Kuppel lag ein Kreis aus hohen Fenstern, durch die das Licht hereinfiel, so dass man den Eindruck hatte, sich im Inneren eines riesigen Edelsteins zu befinden, den sein eigenes Feuer leuchten ließ.
Zwar war er von klein auf an die Verehrung der Jungfrau Maria gewöhnt, doch ging es hier um eine andere Art von Weiblichkeit. Die Vorstellung der heiligen Weisheit – denn nichts anderes bedeutete der Name Hagia Sophia – in Gestalt einer Frau war ihm fremd. Was immer die Weisheit sein mochte, so doch gewiss nicht weiblich?
Dann hatte er Enrico Dandolos von Speichel bedecktes Grabmal gesehen und war davor stehen geblieben, zwischen Beschämung und Loyalität hin- und hergerissen. Seit seinem Eintreffen in der Stadt hatte er viel über die Plünderungen im Verlauf des letzten Kreuzzugs erfahren. Der Doge Enrico Dandolo hatte höchstpersönlich veranlasst, dass die vier überlebensgroßen vergoldeten Bronzepferde, die mittlerweile den Markusdom in Venedig schmückten, aus der eroberten Stadt verschleppt worden waren. Außerdem hatte er sich überaus großzügig bei den heiligsten aller Reliquien bedient. Unter den Beutestücken befanden sich das Gefäß mit dem Blut Christi, einer der Nägel des Kreuzes und das in Gold gefasste Kreuz, das Kaiser Konstantin der Große in der Schlacht vor sich hergetragen hatte. Andererseits war Enrico sein Urgroßvater, womit Giuliano ein Teil von ihm war, ob er wollte oder nicht.
Während er am Grabmal gestanden hatte, war wieder jemand
vorübergekommen und hatte auf die in den Boden eingelassene Platte gespien. Diesmal war er mit der festen Absicht gekommen, sie zu säubern, und sei es nur für kurze Zeit, bis zur nächsten Schändung.
Der Mensch, der ihm heute dabei zugesehen hatte, hatte in ihm eine sonderbare Empfindung geweckt. Zwar hatte er schon zuvor Eunuchen gesehen, fühlte sich aber in deren Gegenwart nach wie vor unbehaglich. Was ihn verstört
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