Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
hinaufging, erwachte die Stadt langsam zum Leben. Die Straßenlaternen waren noch an, ebenso wie die Weihnachtsbeleuchtung. Von hier bis zum Ende der Union Street ein einziges Lichtermeer. Die Aberdeener liebten das.
Logan blieb einen Moment stehen und sog die kalte Morgenluft ein. Der sintflutartige Regen war endlich doch einem leichten Nieseln gewichen, und in der dunstigen Luft erschienen die Weihnachtsdekorationen trüb und verschwommen. Elfenbeinfarbenes Licht, geformt zu Engeln und Rentieren und Weihnachtsmännern, die sich vor dem blaugrauen Himmel abzeichneten. Die Straßen begannen sich allmählich mit Autos zu füllen. In der Union Street waren die Schaufenster voll mit Weihnachtsspezialitäten und billigem Kitsch. Darüber erhob sich grauer Granit, drei oder mehr Stockwerke hoch, mit dunklen Fenstern, die zu Büros gehörten, in denen noch nicht gearbeitet wurde, und zu Wohnungen, in denen die Menschen noch schliefen. Alles war in einen bernsteinfarbenen Schein getaucht, durchbrochen vom funkelnden Weiß der Festbeleuchtung. Es war beinahe schön. Manchmal erinnerte ihn die Stadt daran, warum er immer noch hier lebte.
Am nächsten Kiosk holte er sich einen Karton Orangensaft und zwei butteries , eine Aberdeener Spezialität aus Hefeteig und Schweineschmalz. Dann betrat er das Präsidium durch den Hintereingang. Der Wachhabende blickte auf, als Logan auf die Aufzüge zusteuerte und sich im Gehen schüttelte.
»Morgen, Lazarus.«
Logan tat, als habe er ihn nicht gehört.
Im Besprechungsraum roch es nach starkem Kaffee, abgestandenem Bier und den säuerlichen Ausdünstungen verkaterter Menschen. Die Truppe war vollzählig erschienen, was Logan überraschte. Sogar der strippende, kotzende Constable Steve saß ganz hinten in der letzten Reihe, immer noch ziemlich grün im Gesicht.
Logan, in der Hand einen Stapel Kopien eines Fahndungsplakats mit dem Foto des toten Mädchens, hatte sich einen Platz möglichst weit vorn gesucht und wartete nun darauf, dass DI Insch den Startschuss gab. Der Inspector hatte ihn gebeten, sich heute Morgen vor die versammelte Mannschaft zu stellen und ihr einen detaillierten Bericht darüber zu liefern, wie wenig sie bisher über das vierjährige Kind wussten, das gestern auf der Müllkippe von Nigg gefunden worden war.
Als er den Blick von seinen Fotokopien hob, sah er, dass Constable Watson – Jackie – ihn anlächelte. Inzwischen, nachdem er ein bisschen Zeit gehabt hatte, die anfängliche Panik zu überwinden, fand er den Gedanken gar nicht mehr so übel. Vier Monate war es jetzt her, dass er und Isobel sich getrennt hatten. Es wäre nett, zur Abwechslung mal wieder jemanden zu haben. Gleich nach der Einsatzbesprechung würde er zu DI Insch gehen und ihn bitten, ihm einen anderen Bodyguard zuzuweisen. Wenn er und Jackie nicht mehr zusammen arbeiteten, würde sich gewiss niemand beschweren können, wenn er etwas mit ihr anfing.
Er lächelte Constable Jackie Watson zu, deren entzückende Beine jetzt in einer schwarzen Diensthose steckten. Sie lächelte zurück. Es war schön, auf der Welt zu sein.
Da begriff Logan plötzlich, dass alle ihn anlächelten, nicht nur Constable Jackie Watson.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Sergeant.«
Er riss den Kopf herum und sah, dass DI Insch ihn anstarrte. »Äh, ja. Danke, Sir.« Er hievte sich von seinem Stuhl hoch und ging zu dem Tisch, auf dem Insch saß, wobei er hoffte, dass er nicht ganz so verlegen wirkte, wie er sich fühlte.
»Gestern um sechzehn Uhr rief eine gewisse Andrea Murray, Sozialkundelehrerin an der Kincorth Academy, die Notrufzentrale an, um die Entdeckung eines menschlichen Fußes zu melden, der auf der Müllkippe in Nigg aus einem Müllsack ragte. Der Fuß gehörte zur Leiche eines bisher nicht identifizierten vierjährigen Mädchens: weiß, langes blondes Haar, blaue Augen.« Er drückte dem nächstbesten Kollegen einen Stapel Kopien in die Hand und bat ihn, sich eine zu nehmen und den Rest weiterzugeben. Auf jedem Blatt war dasselbe zu sehen: eine Aufnahme aus dem Leichenschauhaus. Das Gesicht des toten Mädchens, die Augen geschlossen, Streifen auf den Wangen, wo das Klebeband entfernt worden war. »Unser Mörder hat versucht, die Leiche zu zerlegen, um sie besser beseitigen zu können, aber er hatte offenbar einen schwachen Magen und konnte die Aktion deshalb nicht zu Ende führen.«
Empörtes und angewidertes Gemurmel ging durch die Reihen der versammelten Männer und Frauen.
»Das bedeutet …« Logan
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