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Die dunklen Wasser von Arcachon

Die dunklen Wasser von Arcachon

Titel: Die dunklen Wasser von Arcachon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tanner
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ein wenig Zeit, sein Gegenüber genauer zu mustern.
    Decayeux trug einen schwarzen Maßanzug nach der letzten Pariser Mode, unter dem Tisch sah Kirchner seine großen Füße, die in polierten Schuhen aus Pferdeleder steckten. Die Krawatte verriet den Provinzler in ihm; sie war zu schmal und bunt gemustert mit ineinander verflochtenen, kleinen Fischen. Sein Gesicht war feist und ließ an häufige Gelage denken. Dass dieser Decayeux ein großer Esser war, stand fest, aber er war einer von der eher unsympathischen Sorte, ein Vielfraß, kein Genießer, einer, der nicht trank, sondern schüttete, einer, der nicht aß, sondern verschlang, was ihm in die Pranken kam.
    Decayeux wartete noch so lange, bis die Sekretärin den Kaffee klappernd gebracht hatte. Dann beugte er sich, nachdem die Tür wieder geschlossen war, auf beide Ellbogen gestützt weit nach vorne, sah Kirchner von unten herauf lauernd an und sagte scharf: »Hören Sie, Monsieur …«, er griff nach der Visitenkarte und las, »Monsieur Kirchner. Sie mögen uns für Provinzler halten. Aber so dumm, dass wir glauben, Le Monde würde einen Reporter hierher schicken, um über eine Demonstration von hundert Austernzüchtern zu schreiben, so dumm sind wir nicht.«
    Kirchner war beeindruckt. Er hatte eben noch geglaubt, die Regeln dieses Spiels zu bestimmen, aber nun wollte sein Gegenüber die Regie übernehmen. Er saß nicht in einem Gespräch, sondern war in einen Zweikampf geraten.
    »Verzeihen Sie, Monsieur Decayeux, aber ich verstehe nicht, was Sie sagen.«
    Decayeux überraschte Kirchner ein weiteres Mal, als er fortfuhr: »Ist Ihnen klar, Monsieur, dass selbst wir hier fernab von Paris, selbst hier im Dorfrathaus von Gujan-Mestras, über Internetanschlüsse verfügen? Und halten Sie es für denkbar, dass ich, wenn mich ein Wildfremder anruft und sich als Le-Monde -Reporter vorstellt, den Namen dieses Reporters kurz in den Computer tippe? Und wenn ich dann feststelle, dass dieser Reporter für gewöhnlich Kriegsgebiete bereist, dass er Preise gewonnen hat mit Reportagen über den Berliner Mauerfall, über Nahostkriege, über China – dann glauben Sie doch nicht im Ernst …«, Decayeux hatte seine Stimme jetzt bis an den Rand des Schreiens hochgetrieben, »dass ich Ihnen auch nur eine Sekunde lang abnehme, dass Sie sich für die Austernzucht interessieren!?«
    »Gut«, sagte Kirchner, es hatte nun keinen Sinn mehr für ihn, sich dumm zu stellen, und er spürte auch eine kühle Aggression in sich aufsteigen, »es soll mir recht sein, Monsieur Decayeux. Hier sind meine Fragen. Erstens: Was wissen Sie über den Tod von Finanzminister Lacombe? Zweitens: Haben Sie Kenntnis davon, dass in Arcachon Partys der Pariser Politikelite stattfinden, zu denen auch Prostituierte aus Bordeaux eingeladen werden? Drittens: Haben Sie selbst schon an solchen Partys teilgenommen? Viertens: Mit welcher Friseurin aus der Gegend hat Minister Lacombe seine Frau betrogen, mit der er in Paris übrigens vier Kinder hatte? Fünftens …«
    Decayeux unterbrach ihn mit einer theatralischen Bewegung, er reckte die Hände in die Höhe, als gälte es, einen Wasserstrahl abzuwehren, und schrie mit seiner dunklen, weit tragenden Stimme: »Sie halten jetzt Ihren Mund, Monsieur, trinken Ihren Kaffee aus und gehen. Dort hinaus! Und übrigens: Wenn ich Sie noch einmal bei Chez Janine sehen sollte, dann werde ich Sie persönlich hinauswerfen lassen!«
***
    Kirchner war zurück im Auto, seine Hände zitterten leicht, das Adrenalin schoss in seinen Blutkreislauf, er war trotz der kurzen Nacht hellwach.
    Als er an einer Mauerecke am Straßenrand die rot blinkende Raute eines Bureau de Tabac sah, stellte er den Landrover auf den Gehsteig, ging hinein, kaufte sich eine Packung blaue Rothmans und Streichhölzer und beendete seine halbjährige Nikotinabstinenz mit drei hintereinanderweg gerauchten Zigaretten.
    Er fühlte sich nicht wirklich besser danach, aber doch irgendwie beruhigt. Das Nikotin führte in der Blutbahn und im Hirn seine Spielchen auf, die erste Zigarette benebelte Kirchner angenehm, wie eine erste Zigarette am Morgen, die zweite und die dritte rauchte er mechanisch weg, als wolle er seine Rückkehr zum Rauchertum unwiderruflich besiegeln.
    Der Besuch bei Decayeux war nicht unbedingt ein Fehlschlag, aber nun hatte sich das Spiel verändert. Alle Offiziellen im weiten Umkreis würden nun in kürzester Zeit wissen, dass ein Reporter in der Gegend war, womöglich bekäme er sogar Besuch von den

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