Die Durchschnittsfalle (German Edition)
unzählige verschiedene Varianten. Sie setzt auf diese Individualität und diesen Variantenreichtum, weil sie weiß, dass die Umwelt keine Konstante ist. Und weil sie weiß, dass das Streben nach Durchschnitt (und schließlich nach möglichst vielen Gleichen) auf die vielen unvorhersehbaren Szenarien von Morgen keine Antwort bietet. Der Zoologe Josef Reichholf schreibt in seinem spannenden Artikel „Wozu braucht die Welt Zigtausende verschiedener Schnecken?“: „Die Wechselfälle und Veränderungen, auch die großen Katastrophen der Erdgeschichte, überlebten in aller Regel jene Stammeslinien am besten, die besonders große Artenvielfalt entwickelt hatten. Irgendein Spross einer solchen artenreichen Gruppe überstand auch die größten Katastrophen, selbst wenn noch so viele andere aussterben mochten. Gruppen mit geringer Mannigfaltigkeit dagegen gingen meistens völlig zugrunde … Die zusammen mindestens 50.000 Arten von Schnecken und Muscheln, die es gegenwärtig gibt, kommen in nahezu allen Lebensräumen auf der Erde vor … Als Tierstamm überlebten die Weichtiere schon mehr als 400 Millionen Jahre. In der evolutionären Königsdisziplin Überleben sind sie damit bereits hundertmal erfolgreicher als die Art Mensch!“
Eine andere Gefahr des Gleichen
In der Einführung meines Buches „Die Macht der Gene“ habe ich davon erzählt, dass meine Frau (eine deutsche Biologin) und ich durch die Gegend meiner Vorfahren und Verwandten im oberösterreichischen Mühlviertel gefahren sind. Bei den ersten dieser Ausflüge hatte ich den Eindruck, dass meine Frau sich darüber Gedanken macht, ob das „besondere“ Äußere der Mühlviertler, das ich ja auch repräsentiere, nun mehr von der Umwelt oder mehr genetisch beeinflusst wäre. Ich habe ihr unterstellt, dass sie sich im zweiten Fall leicht besorgt darüber zeigen könnte, dass unsere Kinder eines Tages zumindest teilweise auch dieses „typische“ äußere Erscheinungsbild bekommen beziehungsweise entwickeln könnten. Erst nach dem Erscheinen dieses Buches hat mir meine Frau einmal erzählt, dass das schon so seine gewisse Richtigkeit hatte, wie ich es beschrieben habe. Fast mehr Sorgen habe ihr damals aber die Tatsache gemacht, dass mir viele der Menschen, die wir auf den verschiedenen Bauernhöfen besuchten, äußerst ähnlich gesehen haben! Tatsache ist ja auch, dass in der Tat viele der Besuchten mehr oder weniger weitschichtig mit mir verwandt waren. Und schon haben wir gemeinsam über eingeschränktes Fortpflanzungsspektrum gewitzelt (auch heute gibt es in dieser Gegend nur wenig Ausgeh- und Jugendtreffmöglichkeiten). Wir kamen sogar zu dem Schluss, dass für das langfristige Überleben der Mühlviertler in dieser Gegend die Einführung des Postbusses existenziell war – sonst würden dort heute alle aussehen wie ich. Spaß beiseite …
Aber genetisch gesehen ist die Fortpflanzung unter nahen Verwandten, also mit geringer biologischer Individualität, in der Tat gefährlich. Ich bitte mich jetzt nicht falsch zu verstehen, das hat mit dem Mühlviertel jetzt wirklich gar nichts zu tun. Wir haben ja bereits besprochen, dass man jedes Gen zweimal hat und dass es Erkrankungen gibt, die nur dann auftreten, wenn beide Gene eine pathogene Mutation aufweisen. Ist nur ein Gen betroffen, so entwickelt man die Krankheit nicht, sondern ist lediglich Überträger. Es müssen schon beide Eltern solche Überträger sein, dass sich daraus ein 25-prozentiges Risiko für deren Nachkommen ergibt. Umso näher allerdings zwei Menschen miteinander verwandt sind, desto eher weisen sie genetische Übereinstimmungen auf. Das ist der Grund, warum Verwandtschaftsehen mit einem höheren Risiko verbunden sind, Kinder mit speziellen genetischen Erkrankungen zu bekommen. Auch wenn in bestimmten ethnischen Gruppen (und früher vor allem auch in so manchen Herrschaftsfamilien) Cousin-Cousine-Verbindungen durchaus üblich sind, so muss das grundsätzlich mathematisch auch in diesen Fällen Gültigkeit haben. Von besonderer Bedeutung ist das aber bei Verbindungen noch höherer Verwandtschaftsgrade, wie etwa Bruder-Schwester, Mutter-Sohn oder Vater-Tochter. In Österreich wurde die Tatsache, dass es so etwas gibt, in fürchterlichster Weise in Erinnerung gerufen, als der Fall des mittlerweile rechtskräftig verurteilten Josef Fritzl, der seine eigene Tochter jahrelang in einem Kellerraum gefangen gehalten, vergewaltigt und mit ihr mehrere Kinder gezeugt hat, bekannt wurde.
Umso
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