Die Durchschnittsfalle (German Edition)
Förderung höchstmöglicher Individualität den besten Ansatz, vorbereitet zu sein. Daher ist auch die Argumentation des erstrebenswerten höchsten Niveaus nicht schlüssig. Erstens, wer (und wie) definiert das höchste Niveau, wer definiert, was das Beste ist, wenn wir die Probleme der Zukunft überhaupt nicht kennen? Wir würden uns bestimmt sehr oft irren, so lange, bis es fatale Folgen hätte. Und zweitens, angenommen es träte der „sogenannte“ Idealfall ein, dass am Ende wirklich alle auf dem höchsten Niveau ankommen. Es würde wieder keinerlei Individualität herrschen! Alle wären gleich, wenn auch auf einem zumindest heute für erstrebenswert gehaltenen hohen Niveau. Wenn alle auf diesem Niveau angelangt wären, wäre dieses Niveau per Definition übrigens wieder der Durchschnitt. Wenn alle auf diesem Niveau angekommen wären, wäre der Mittelwert dieses Niveau.
Der Durchschnitt ist ungerecht
Es gibt auch noch einen anderen Irrglauben, der sich offensichtlich in den Köpfen vieler Entscheidungsträger festgesetzt hat. Wer einen Durchschnitt definiert, ist gerecht, weil der Durchschnitt eher von jedem erreicht werden kann. Wer sich am Durchschnitt orientiert, macht es folglich vielen recht. Wer am Durchschnitt klebt, zeigt nicht mit dem Finger auf den Einzelnen, weder auf den „Hochbegabten“ noch auf den „Unterbegabten“. Das sei fair für alle. Mein Verdacht? Der Durchschnitt ist viel besser mathematisch beschreibbar und vergleichbar. Der Durchschnitt der Finnen, der Koreaner, der Deutschen, der Österreicher … Politiker, Lehrer, Firmenbosse oder Gruppenleiter bei den Pfadfindern will die Mehrheit hinter sich wissen. Das ist doch irgendwie ein Zeichen von Beliebtheit – oder?
Mir wäre es viel lieber, wir alle würden uns damit rühmen können, alle hinter uns zu wissen. Alle deshalb, weil wir uns nicht am Durchschnitt, sondern am Individuum orientieren. Ich habe auch das Gefühl, dass viele meinen, der Durchschnitt sei vorhersehbarer und darum sollte man mit ihm rechnen. Wenn man eine Meinung vertritt oder eine Aktion setzt, kann man schließlich nicht wissen, wie viele Individuen diese Meinung teilen. Wenn man die Interessen des Durchschnitts in Umfragen erhebt, dokumentiert, berechnet und ins Kalkül zieht, ist man doch auf der sichereren Seite. Ich hoffe, ich habe bisher klarmachen können, dass das nur so lange hält, bis die Zukunft mit einer neuen Frage kommt, die nicht ins Spektrum des Durchschnitts passt.
Ich habe den deutschen Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher einmal bei einer gemeinsamen Podiumsdiskussion gefragt, was seiner Meinung nach einen guten Politiker ausmacht. Seine Antwort war: „Ein guter Politiker vertritt seine tiefste innere Überzeugung auch dann, wenn er eigentlich davon ausgehen muss, dafür abgewählt zu werden“. Ich fürchte, dass leider die meisten Wahlkampfbeauftragten aller Parteien dieser Welt ihren Spitzenkandidaten das Gegenteil raten: „Sage nie, zumindest im Wahlkampf nie, Dinge, von denen Du nicht ausgehen kannst, dass die Mehrheit Dir recht gibt und Dich dafür auch wählt. Und was Du nach dem Wahlkampf sagst, kann meinetwegen etwas (aber sicher nicht zu viel) individueller sein.“
Ich gehe aber sogar einen Schritt weiter und sage, der Durchschnitt ist eigentlich ungerecht und nur sehr schwer zu verkaufen. Natürlich werden ein paar unter uns zufällig bei dem einen oder anderen Aspekt eine Punktlandung am Durchschnitt machen – sei es mit ihrer Meinung oder mit ihren Fähigkeiten. Aber ist es nicht klar, dass die weit überwiegende Mehrheit unter uns eben nicht punktgenau im Mittel liegt? Ergibt sich daraus nicht zwingend, dass der Durchschnitt für die meisten eben nicht repräsentativ ist? Wird der Durchschnitt nicht eigentlich den wenigsten gerecht? Ganz wenige (wenn überhaupt) finden sich genau im Durchschnitt wieder – der Durchschnitt entspricht also den meisten von uns überhaupt nicht und wir finden uns darin auch nicht wieder. Erneut einer der vielen Gründe, warum der Durchschnitt im Grunde der vollkommen falsche Weg ist.
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