Die Durchschnittsfalle (German Edition)
damit ist auch klar, warum eineiige Zwillinge eben sehr viele Dinge auch nicht gemeinsam haben. Es wird immer weniger, aber noch vor einigen Jahren musste man stets in den Medien von „ein Gen für Homosexualität“, „das Intelligenz-Gen“ oder „ein Gen für Aggressivität“ hören. Das ist Unsinn. So komplexe Anlagen des Menschen sind einerseits mit Sicherheit von vielen verschiedenen Genen mit beeinflusst und außerdem stets multifaktoriell, als durch das Zusammenspiel von Genetik und Umwelt geprägt. Für die Diskussion, die wir in diesem Buch führen, ist zu sagen, dass es natürlich auch nicht ein Begabungs-Gen gibt. Einen Hauptschalter für begabt oder nicht begabt hat man nicht identifiziert und wird man auch nicht. Begabungen sind multifaktorielle Anlagen, viele Gene und die Umwelt wirken zusammen, einmal mehr das eine und das andere Mal mehr das andere.
Die vielen Unterschiede bei eineiigen Zwillingen lassen sich aber außerdem dadurch erklären, dass sie ihr identisches genetisches Repertoire (auf Ebene der DNA-Sequenz) nicht gleich verwenden. Epigenetische Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass eine Hautzelle und eine Nervenzelle verschiedene Gene desselben Genoms verwenden, und ähnlich verhält es sich zwischen dem einen und dem anderen eineiigen Zwilling. Hier ist auch wichtig zu erwähnen, dass sich unser epigenetischer Code im Laufe unseres Lebens mit dem Älterwerden auch ändert. Daraus folgt der Schluss, dass eineiige Zwillinge zwar genetisch identisch sind, ihre epigenetisch gesteuerte Verwendung ihrer Gene jedoch unterschiedlich ist, umso unterschiedlicher, je älter sie sind und desto verschiedenartiger ihr Leben verlaufen ist. Das bedeutet natürlich auch, dass an multifaktoriellen Erkrankungen, die durch das Zusammenspiel von Genen und Umwelt entstehen, der eine Zwilling erkranken kann, während der andere keinerlei Symptome in seinem Leben entwickelt.
Epigenetisch talentiert?
Die oft polarisierende „Nature or nurture“-Diskussion im Zusammenhang mit Talenten beruht zumeist auf semantischen Missverständnissen und ist überholt – das habe ich bereits argumentiert. Entscheidend ist die stetige Wechselwirkung zwischen beiden, Biologie und Umwelt. Um in diesem Buch eine klarere Linie anzubieten und auch, um schließlich diesem Verwirrspiel der Wörter grundsätzlich entfliehen zu können, versuche ich die Begriffe „Talent“ oder „Begabung“ vorwiegend für die besonderen individuellen genetisch mitbestimmten Leistungsvoraussetzungen zu verwenden. Der Erfolg ist für mich die besondere Leistung, die durch harte Arbeit daraus entstehen kann. Die hier in diesem Kapitel geführte Diskussion zeigt auch, warum diese gezielt gewählte Verwendung mehr Klarheit bietet. Schließlich ist es ja so, dass das Verständnis um die Epigenetik noch viel deutlicher macht, dass Genetik und Umwelt vollkommen untrennbar zusammenhängen. Gene beeinflussen unser Leben. Die Umwelt beeinflusst unser Leben. Und die Umwelt beeinflusst auch die Verwendung unseres genetischen Repertoires, welche Gene wir verwenden und welche wir ausschalten (ob vorübergehend oder langfristig). Andererseits ist auch klar, die Umwelt kann zwar epigenetisch ein- und ausschalten, aber auch nur das, was genetisch in der individuellen DNA-Sequenz jedes Einzelnen vorhanden ist. Ja, und dieses unser Epigenom ändert sich sogar mit dem Älterwerden.
Nur um noch einmal die Absurdität des Gott sei Dank nur mehr selten heraufbeschworenen Machtkampfs zwischen Genetik und Umwelt zu verdeutlichen: Würde jemand sagen: „Alles ist Genetik!“, so würde er die große Bedeutung der Umwelt im Allgemeinen und auch die Rolle der Umwelt für die Verwendung unseres genetischen Kapitals über epigenetische Mechanismen ignorieren. Würde jemand sagen: „Alles ist Umwelt!“, so würde diese Person die Bedeutung der Gene im Allgemeinen und die Tatsache, dass die Umwelt über epigenetische Mechanismen auch direkte Konsequenzen für unsere Gene hat, also genetische Regulationen steuert, ignorieren. Dies gilt vor allem auch für unsere hier geführte Diskussion über Talente und Erfolg: Nur ein Konzept, das die unverzichtbare interagierende Bedeutung von Genen, Umwelt und Epigenetik berücksichtigt, vor allem auch im Zusammenhang mit Talenten und Erfolg, zeichnet ein sich der Realität näherndes Bild.
Ich habe eingangs die Aussage zitiert: „Gene sind Bleistift und Papier, aber die Geschichte schreiben wir selbst.“ Vielleicht sollte
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