Die Ecstasy-Affäre
Ich kenne die Mentalität der User – wie es in deren Kreisen heißt. Das sind keine Kriminellen, das sind nur Typen, die in Ecstasy eine Ersatzwelt suchen, weil diese Welt, in der sie leben, sie ankotzt. Sie suchen ein Glück, das ihnen sonst keiner geben kann, nur diese Pille. Und wenn dann einer von ihnen verreckt, werden sie kopflos, werden wie die kleinen Kinder, deren Puppe oder Spielzeugauto zerbrochen ist. Die wirklichen Täter des schleichenden Todes sind die Dealer, die Verteiler, die Großhändler, die Fabrikanten von Ecstasy. Was da in den Discos und auf Techno-Partys herumzuckt, sind die Opfer, sind die Flüchtenden in eine Glückswelt.«
»Ein Plädoyer für die verseuchte Jugend!« Wortke zeigte auf die zugedeckte Tote. »Der arme verirrte Junge, der diesem Mädchen die Pille in den Mund gesteckt hat …«
»Weißt du, ob es so gewesen ist? Vielleicht waren beide erfahrene User?«
»Das bekommen wir heraus. Wenn wir den Namen des Mädchens wissen …«
»… stehen wir vor einer Mauer des Schweigens wie bei Lisa Brunnmeier.«
»Oder wir stoßen eine Tür auf.«
Die Tote wurde in dem Zinksarg weggetragen, nachdem auch Staatsanwalt Dr. Krähmann sie besichtigt hatte. Er ließ sich von Wortke und Reiber berichten und stimmte ihnen zu. »Das ist ein typischer Ecstasy-Fall!« sagte er. »Der 58. Fall in Deutschland. Da kommt noch etwas auf uns zu, was uns die Hosen auszieht. Eine Massenkriminalität!«
Er blickte dem Zinksarg nach. »Es muß eine umfassende Aufklärung der Jugend ins Leben gerufen werden. Bloße Plakate ›Keine Macht den Drogen‹ werden von den Konsumenten belächelt. Sie wissen es besser. Ein Rausch ist allemal reizvoller als eine laue Mahnung. Wir müssen in einen Dialog mit der Jugend kommen.«
»Eine schöne Theorie, Herr Staatsanwalt.« Reiber sprach aus seiner täglichen Erfahrung. »Die es angeht, die wollen nicht diskutieren. Nicht mit uns. Wir sind Vertreter einer Gegenwart, die der Jugend keine Heimat mehr bietet. Warum ist Ecstasy zur Modedroge geworden? Weil sich die Jugend verraten und verlassen vorkommt.«
»Aber das ist sie doch gar nicht!« Dr. Krähmann sah Reiber empört an. »Was wird in unserem Staat nicht alles für die Jugend getan! Ich verstehe diese Undankbarkeit nicht. Gerade der Sozialstandard der deutschen Jugend ist der höchste in Europa. Das zentrale Problem ist, so sehe jedenfalls ich es: Der Jugend geht es zu gut! Sie ist übersättigt. Sie hat nie morgens um fünf Uhr für zweihundert Gramm Brot Schlange stehen müssen. Sie hat nie pro Woche mit hundertfünfzig Gramm Wurst auskommen müssen. Sie mußte sich nie von Wassersuppen und Kohlrübenschnitzel ernähren. Hier liegt der Hase im Pfeffer: Ihre Umwelt kann ihnen nichts mehr bieten, sie sind kotzsatt … Also dann los: Flucht in eine andere, imaginäre Welt. Her mit den Drogen! Das betäubt das Rülpsgefühl.«
»Und wissen Sie ein Mittel dagegen, Herr Staatsanwalt?« fragte Reiber.
»Wozu haben wir unsere Experten? Die Drogenbeauftragten? Die Jugendpsychologen? Diesen ganzen Haufen superkluger Männer mit ihren Untersuchungen, Expertisen und Therapie-Theorien? Hunderttausend Worte, aber kein konstruktiver Gedanke.«
»Da gebe ich Ihnen recht. Ich werde täglich damit konfrontiert. Wenn einer die Drogenszene kennt, dann ist es unser Dezernat. Auch das LKA steht an vorderster Front … aber wir können nur abwehren, beobachten, ermitteln, verhaften, doch das ist, als schlage man mit der flachen Hand aufs Wasser. Es spritzt ein bißchen, ein paar Wellen entstehen, aber das Wasser bleibt. Wir haben im vergangenen Jahr 239.051 Ecstasy-Tabletten beschlagnahmt, in diesem Jahr sind es bis zum Mai bereits 170.834 Pillen, also schon über das Doppelte vom Vorjahr, und die Flut wächst weiter. Wir wissen, daß es in den Niederlanden, vor allem in Limburg und Nordbrabant zahlreiche Labors gibt, die Millionen von Pillen herstellen. Die holländische Polizei hat in diesem Jahr vierzehn Labors und elf Depots entdeckt und ausgehoben. Aber was von Polen herüberkommt, aus anderen Oststaaten, aus uns unbekannten Ländern, das hat noch niemand aufgeschlüsselt. Europa ist eingekreist von Ecstasy, aber niemand nimmt das wirklich wahr. Es fehlt die Masseninformation. Und wenn wirklich alle Welt das Problem kennt – welche Wirkung hat dieses Wissen? Jeder weiß, was Heroin ist, alle kennen Kokain, Hasch ist ein geflügeltes Wort geworden, aber der Drogenstrom fließt trotzdem unvermindert. Im Gegenteil: Er
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