Die Ecstasy-Affäre
Leute. Sie wurden regelrecht zusammengeschlagen. Einziges Motiv: ›Wir wollen Geld!‹ Nach unseren bisherigen Erkenntnissen haben wir es in München mit rund dreißig Jugendbanden zu tun – in Berlin sind es über fünfzig – und achtzig sogenannten ›Spontangruppen‹, die nur ab und zu zuschlagen, aus reiner Lust am Terror oder eben auch, um sich genug Geld für Vergnügungen zu verschaffen. Vergnügungen, das sind: Drogen, Alkohol, Szene-Treffs, Techno-Nächte. Fast jede Beute wird sofort konsumiert. Und die Polizei? Unsere Gesetze? Jugendliche Straftäter sind mit Samthandschuhen anzufassen, und vor dem Gesetz ist ein dreizehnjähriges Mädchen, das einen Rentner krankenhausreif schlägt, nicht strafmündig! Allenfalls kommen solche Jugendlichen in Erziehungsheime, und dort lernen sie oft die Hohe Schule des Verbrechens kennen. Es ist ja bekannt, daß eine Strafvollzugsanstalt die Universität des Verbrechers ist. Das wissen wir alle, und wir wissen auch, daß das nicht zu ändern ist. Das ist ein unlösbares Problem in allen Ländern dieser Erde.«
Reiber legte die Papiere in die Akte zurück. »Und nun das Wichtigste, was uns angeht: Diese Explosion der Jugendkriminalität ist verbunden mit dem Drogenkonsum, und hier ist die Pille Ecstasy auf dem Vormarsch. Auch in München und Amsterdam, Berlin, Paris und Wien. Wenn ich lese, daß in Berlin 11.527 schwere Straftaten allein von Jugendlichen begangen wurden, dann kann ich für München nur sagen: Uns stehen verdammt schwere Zeiten bevor.«
Reiber schwieg und schlug den Aktendeckel zu. Er sah die Wirkung seiner Worte – seine Beamten schwiegen. Täglich erlebten sie die durch Verordnungen eingeengte Tätigkeit der Polizei.
»Wir müssen dem Vordringen des Ecstasy-Kults entgegenwirken«, fuhr Reiber fort, und prompt fiel aus der Mitte der Versammelten die Frage: »Wie?«
»Durch vermehrte Kontrollen und Razzien in den uns bekannten Lokalitäten. Durch das Aufspüren von noch nicht bekannten Treffs. Durch Aufsammeln von Konsumenten der Droge.«
»Dafür sind wir völlig unterbesetzt.«
»So ist es. Und das wird sich auch nicht bessern. Nehmen wir wieder das Beispiel Berlin: Trotz der lawinenartigen Ausbreitung der Kriminalität will Berlin im Rahmen einer ›Polizeireform‹ achtzig Millionen Mark an Ausrüstung einsparen und zweitausend Polizeistellen abbauen. Auch wir in München sind, im Vergleich zu der organisierten Kriminalität, ein kleines Häuflein herumschnüffelnder Hunde. Wir kämpfen um jedes zusätzliche Funkgerät, während die Mafia bereits Laserwaffen einsetzt, über Satelliten-Telefone kommuniziert und im Panzer-Mercedes schußsicher herumfährt. In dieser Situation gibt es nur einen Ausweg, um als Polizei erfolgreich zu sein: Wir müssen mehr V-Leute in die Szene einschleusen. Jugendliche im gleichen Alter wie die User. Wir kommen an die jugendlichen Täter nur durch Jugendliche heran! Wenn ich lese, daß die Aufklärungsquote in Berlin schlappe 43,8 Prozent beträgt, dann schwöre ich mir, diese Untergangszahl in München nicht zu erreichen. Ich habe, im Einvernehmen mit dem LKA, neue Einsatzpläne vorbereitet, die wir nachher gemeinsam besprechen werden. Grundgedanke: Informanten aus der Jugendkriminalität zu uns herüberzuziehen.«
»Und was können wir denen versprechen?« warf ein Beamter ein.
»Da sitzen wir ganz schön in der Scheiße!« Reiber bemühte sich gar nicht, das gewählter auszudrücken. Er war dafür bekannt, daß er die Dinge beim Namen nannte. »Jede Mark für solche Informanten muß extra beantragt werden und wird zum trägen Verwaltungsakt. Und eine verbesserte Kronzeugenregelung und ein umfassender Zeugenschutz, wie man ihn in den USA kennt, gehen wieder über den Tisch der Politiker in Bonn. Was dabei herauskommt, ahnen wir! Eigentlich sollte bei jedem Politiker einmal eingebrochen und geraubt werden, damit sie lernen, realer zu denken.« Reiber räusperte sich wieder. »Diesen Satz vergessen Sie bitte sofort! Es ist meine Privatmeinung; sie bleibt unter uns. Fangen wir also an mit der Aufgabe unseres Kommissariats: Einschleusung von jugendlichen Informanten in die neue Ecstasy-Szene.«
Was an diesem Morgen im 13. Dezernat besprochen wurde, war allerdings bereits von der Wirklichkeit überholt worden.
Die jungen Ecstasy-Verteiler und ›Kundenwerber‹ erhielten von Franz von Gleichem eine höhere Provision, als die Polizei an Spitzellohn versprechen konnte. Die Mafia war wieder zwei Schritte voraus. Und
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