Die Ecstasy-Affäre
war, starrte er fassungslos vor sich hin und sagte mit grausamer Nüchternheit:
»Mein Gott, wir haben unser eigenes Kind nicht gekannt. Wir haben uns zu wenig um sie gekümmert. Es ist auch unsere Schuld.«
Und dann begann auch er zu weinen.
Was Reiber und Wortke an diesem Vormittag an Informationen zusammentrugen, war der Werdegang eines jungen Mädchens, wie er hunderttausendfach vorkommt: ein geordnetes Elternhaus, der Vater Installateurmeister, die Mutter vor der Ehe Verkäuferin in einem Supermarkt. Die üblichen Kinderkrankheiten wie Masern und Windpocken, keine psychischen Belastungen, Volksschule, eine Lehre als Friseurin, vor einem Jahr die Gesellenprüfung, tätig im Friseursalon ›Evita‹. Lisa liebte Rockmusik, kleidete sich unauffällig, aber doch mit einem Hauch von Sex, hatte keinen festen Freund, besuchte gern Discos, tanzte leidenschaftlich gern, zog Cola oder Limo alkoholischen Getränken vor, aß gerne Eis und Kebab oder Big Macs, hatte einen großen Freundeskreis und kannte als Friseurin eine Menge Leute. Ein ganz normales Leben – plötzlich ausgelöscht durch Ecstasy.
Nach dem schweren Gang zur Gerichtsmedizin, wo die Brunnmeiers ihre Tochter identifizierten und Elfriede neben der Leiche ohnmächtig wurde, saßen Wortke und Reiber im 13. Dezernat zusammen und lasen noch einmal die ersten Ermittlungen durch.
»Da haben wir den berühmten Heuhaufen, in dem man die Nadel suchen soll«, sagte Wortke. »Ein breit gestreutes Umfeld. Wer hat ihr die Pillen geliefert? Peter, das wird wieder ein Puzzlespiel. Da wirst du ganz schön herumrennen müssen. Hunderte von Befragungen …«
»Oder nur wenige, wenn wir Glück haben.« Reiber las noch einmal die Notizen durch. »Irgendwo hat sie die Pillen geschluckt. Dann starb sie an Herzversagen. Aber sie war nicht allein. Mindestens einer war bei ihr, hat sie weggeschafft und in dem Keller am Abstellbahnhof Steinhausen abgelegt. Das ist ein Hinweis: Welcher normale Bürger kennt ein Abbruchhaus neben dem Abstellbahnhof? Von diesen Ruinen haben meistens nur Mitglieder der Szene eine Ahnung. Hier hat der Untergrund seine Verstecke, hier wird mit Drogen gehandelt, hier werden auch Techno-Partys gefeiert, man ist sicher vor Polizeistreifen. Logisch also, daß Lisa Brunnmeier in diesen Kreisen verkehrte, ohne daß jemand es wußte. Sie war nach außen hin immer die brave Tochter. Aber wenn es dunkel wurde, streifte sie das bürgerliche Kleid ab. Vor allem am Sonnabend oder Sonntag. Und heute ist Montag; da durfte es eine lange Sonntagnacht werden, denn am Montag haben die Friseurgeschäfte geschlossen. Nur wurde es jetzt eine ewige Nacht.«
»Einleuchtend.« Wortke griff nach der Flasche Bier, die auf Reibers Schreibtisch stand, setzte sie an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. Es war wie immer: Leichen machten ihn durstig. »Also mischen wir ab morgen die Szene auf. Und wenn's eine Privatparty gewesen ist?«
»Ich werde ihren Freundeskreis durch die Mangel drehen.« Reiber hieb mit der Faust auf die Tischplatte. »Ich werde die Quelle entdecken, aus der das Ecstasy nach München kommt. Lisa ist die erste Ecstasy-Tote – und sie soll die letzte sein. Ich will in München keine Amsterdamer Verhältnisse haben!«
»Ein gewaltiges Wort, Peter.« Wortke erhob sich, ging an das Fenster und blickte über die Straße. Gegenüber lag der Münchner Hauptbahnhof. »Mit viel Glück erwischst du den oder die Leichenabschlepper und vielleicht auch noch den örtlichen Dealer der Droge. Aber an die Lieferanten und Produzenten der Trendpille kommst du nicht heran. Gib dich da keinen Illusionen hin. Du hast es selbst einmal gesagt: Das Problem ist grenzüberschreitend. Verdammt, diese Hilflosigkeit macht mich ganz krank …«
Noch in der Nacht von Montag auf Dienstag kamen Polizeistreifen in die bekannten Discos und Techno-Clubs. Sie verhörten Hunderte, meist Jugendliche, beschlagnahmten Klappmesser, Gummiknüppel mit Stahleinlagen, Baseballschläger, zwei Pistolen, zehn Gramm Kokain, sechs Gramm reines Heroin, ein Kilo Hasch, zwölf Saugpapierblättchen, vollgesogen mit LSD, und dreihundertvierzig Ecstasy-Pillen der Typen Smiley, Playboy und Zwerg Seppi. Letztere war der Renner bei den Techno-Kids, ein fast reines Präparat ohne Verschnitt. Sie war auch die teuerste auf dem Drogenmarkt: pro Stück siebzig Mark, für einen Junkie fast schon unerschwinglich. Eine Smiley kann man schon für vierzig Mark haben, eine Namenlos, die unreinste von allen Pillen,
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