Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
vernünftiges Krisenmanagement bei AKW-Unfällen vorauszusetzen. »Moment«, sagte Oxana und verließ uns. Bis sie wiederkam, versorgte uns das nimmermüde Kopfkino mit Szenen deutscher Geflügelmast, nackten Puten, deren Hobby es war, sich vor lauter Stress wund zu kratzen, ehemals stolzen Hähnen, die es vom ländlichen Misthaufen auf den Gülle-Mount-Everest der Lebensmittelgroßindustrie verschlagen hatte. Oxana kehrte mit einem hübschen Weidenkörbchen zurück, wies uns an, den Tisch frei zu machen, legte eine saubere weiße Decke drauf und packte aus: belegte Brötchen, hartgekochte Eier, Obst, eine Flasche Rotwein, Gläser, zum Glück keine Chicken McNuggets. »Man kann zu jeder Jahreszeit picknicken«, erklärte sie, »und als Kennerin von Mangelwirtschaften gehe ich nie ohne Proviant auf große Fahrt. Das liegt einem so im Blut.« Wir aßen und tranken, dann erzählte Krause weiter.
»So ging das über Generationen. Die Hähnchenmast gab uns Brot, der Ort stank wie die Pest und bestätigte den schlechten Ruf, dem wir ausgesetzt waren, sobald wir unser Dorf verließen. Der letzte Koch, Gunnar, war von allen der übelste, ein Großkotz, ein Leuteschinder, ein Lohndrücker, ständig schlecht gelaunt, was daran liegen mochte, dass er mit seiner blasierten Frau Margarethe nur eine Tochter zustande gebracht hatte und nicht den sonst üblichen natürlichen Erben mit Pillermann, der den Namen des Geschlechtes in die Zukunft tragen würde. Und wie das Schicksal es so will – und sagen Sie nichts gegen das Schicksal, es ist eine witzige Frau – war diese Tochter Sylvia das genaue Gegenteil ihres Vaters. Hübsch und offen, ohne Vorurteil und Dünkel, bald der feuchte Traum unserer hiesigen männlichen Jugend und nicht nur der. Natürlich ging sie in eine höhere städtische Schule wie sonst nur die Weberkinder. Und da ist es wohl passiert. Sylvia freundet sich mit Sonja an, man sitzt im morgendlichen Schulbus nebeneinander, man redet über alles, über das Mädchen in diesem Alter nun einmal reden, man vertraut sich Geheimnisse an, Sylvia lernt Georg kennen – und die beiden verlieben sich. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, sie ist nicht mehr aufzuhalten.«
Oxana hatte auch kleine Schälchen mit Schokoladenpudding in ihrem Korb. Wir löffelten andächtig, wieder Kopfkino, etwas Melodramatisches im Romeo-und-Julia-Stil, tragischer Ausgang. Krause spendierte Verdauungsschnaps – »keine Angst, ist nicht von hier« –, ich spendierte Verdauungszigaretten. Wir pafften und sinnierten und warteten auf die Fortsetzung der Geschichte.
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»Tja.« Krause hielt für einen Moment inne, um mit der Zungenspitze ein Zahnloch nach Essensresten zu durchpflügen. »Gegen die Natur ist der Mensch machtlos. Sylvia und Georg verliebten sich ineinander, eine heimliche Romanze zunächst, dann war Georg mit der Schule fertig und wurde Azubi in der Buchhaltung der Hähnchenfarm. Gunnar Koch schätzte ihn, aber glauben Sie nicht, er hätte ihn besser behandelt als die anderen seiner Arbeitssklaven. Oh nein. Gunnar Koch war ein Schwein durch und durch, geldgeil, und seine Tochter musste demzufolge zum höchstmöglichen Preis verscheuert werden.«
»Ach Gott«, seufzte Oxana und nahm einen Schluck Wein. »Was ist passiert?« »Das übliche«, antwortete Krause. »Sylvia und Georg waren ein Liebespaar, sie trafen sich an verschwiegenen Plätzen, aber so verschwiegen ist hier kein Platz als dass die Sache nicht eines Tages auffliegen würde. Sylvia studierte inzwischen. Kunstgeschichte natürlich.« Der Alte lachte verächtlich. »Genau das Richtige für eine, deren vorzüglichster Daseinszweck es ist, meist bietend verheiratet zu werden, einen Juniorchef mit möglichst viel Kapital in den Laden zu schaffen, damit man investieren kann. Und mit ein wenig Lendenkraft, um den ersehnten männlichen Erben zu produzieren. Sie wussten das beide, Sylvia wie Georg, sie wollten sich dem nicht fügen, nach Sylvias Studium ihren Vater mit der Wahrheit konfrontieren, notfalls abhauen, auf Nimmerwiedersehen.«
»Richtig!«, rief Oxana. Krauses mitleidiger Blick sagte ihr sofort, es war anders gekommen. »Wir im Dorf ahnten, nein, wir wussten, was zwischen den beiden lief. Wir hatten Angst. Aber wir schwiegen. Bis auf einen, der auch in Sylvia verliebt war und für die Kochs arbeitete. Er hat eines Tages alles verraten, was weiß ich, warum genau, was er sich erhoffte, was es ihm gebracht hat. Gunnar Koch tobte, Gunnar Koch hegte Mordgedanken. Georg
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