Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
streicheln, verkniff es sich aber. »Umbringen?« Es klang ungläubig, was jetzt nichts mit Atheismus zu tun hatte. »Das ist ein so endgültiges Wort. Und kulturell natürlich vorbelastet, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Natürlich gestatten Sie. Sie, eine hochgebildete Frau, eine Intellektuelle, wenn ich so sagen darf. Mit Ihnen kann man auch über solche Dinge reden wie den Mord als conditio sine qua non, also das, was man bei Realschülern eine notwendige Vorbedingung für etwas nennen müsste.«
Irmi verstand kein Wort, obwohl sie jedes Wort verstand und vielleicht lag in dieser Feststellung der Schlüssel zu allem menschlichen Elend. Sie hörte, wie in der Küche die Kaffeemaschine mit ihrer stupiden und entfremdeten Arbeit begann, heißes Wasser zu produzieren und über Kaffeepulver auszugießen. Bernie, wer sonst, hantierte mit Geschirr, womit er wenig Erfahrung hatte, es klirrte haarscharf an der Katastrophe eines Scherbengerichts vorbei. Jonny suchte in seiner Jackentasche nach irgendetwas, fand es schließlich, so ein schwarzes Ding, Irmi erinnerte sich, dass man es iPod nannte und Jonny betätigte es sofort.
»Das ist ein iPod, gnädige Frau, haben Sie vielleicht schon mal gesehen. Kultobjekt, ein Must-Have des modernen Menschen. Klingt schön, ja? So ganz harmlos und easy und eventmäßig und gar nicht nach – Mord, diesem unschönen, verpönten Wort? Aber wissen Sie um die Arbeitsbedingungen der Menschen, die dieses Gerät bauen? Wissen Sie, dass diese Arbeitsbedingungen dermaßen schlecht sind, dass viele der fleißigen chinesischen Bienchen Selbstmord begangen haben oder gerade begehen oder noch begehen werden? Und Selbstmord ist auch Mord, ja? Vor allem dann, wenn es ein erzwungener ist. Aber davon redet man nicht.«
Irmi nickte. Ja, das stimmte, aber sie hätte dies jetzt lieber aus dem Mund eines Fernsehphilosophen gehört (dieser junge Typ, der immer in Talkshows rumsaß und kluge Dinge von sich gab) als aus dem eines Killers. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte: »Da sind wir uns einig. Mord ist der Stoff, der die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.« Jonny nickte anerkennend, steckte seinen iPod wieder in die Tasche zurück und applaudierte. »Wir verstehen uns wirklich, meine Liebe. Ich wusste es. Also reden wir von Mord. Ganz ohne Fragezeichen. Apropos...«
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Der Killer philosophiert weiter
Es duftete nach frischem Kaffee und draußen in der Küche pfiff Bernie eine heitere Melodie, Irmi kannte sie nicht. Sie wusste nur, und auch das nicht genau, dass der Genuss der letzten Tasse Kaffee ihres Lebens bevorstand, sie sah in Jonnys Gesicht, um eine Bestätigung daraus abzulesen, ohne Erfolg. Aus Jonnys Gesicht fielen wieder langsam die Wörter und wurden zu Worten.
»Fragen, meine Teuerste, Fragen von solcher Endgültigkeit wie ‚Werden Sie mich jetzt ermorden?’, da lesen wir ellenlange Sätze und haben oft keine Ahnung, ob sie als Aussagen oder Fragen enden, so wie das Leben mit einem Punkt, einem Ausrufezeichen, einem Fragezeichen enden kann – oder einem Komma, wenn wir vermeinen, der Satz unseres Lebens sei mit dem Tode noch nicht zu Ende – oder mit einem Semikolon, wenn wir eher der agnostischen Betrachtungsweise der letzten Dinge zuneigen. Da lobe ich mir die Spanier! Sie übersetzen nicht nur die besten deutschen Krimis in ihre wunderbare Sprache, bei ihnen steht das Fragezeichen am Anfang eines Satzes, auf dem Kopf auch noch, und dann wissen die Spanier sofort, woran sie sind, nicht wahr? Neulich las ich eine Krimikritik in einer Provinzzeitung und die Rezensentin beschwerte sich über die langen Sätze des Autors. Vielleicht endeten sie allesamt mit Fragezeichen und wie sehr wäre der armen Frau geholfen gewesen, hätte sie das von Anfang an gewusst!«
Langsam quatschte Jonny für Irmis Geschmack zu pastoral. Mochte sie nicht, hatte sie noch nie gemocht, diese ganzen Besessenen, Missionare, Möchtegerndenker, Ideologenschwengel. Nimm deine Knarre aus der Ta sche, schraub den Schalldämpfer drauf und leg mich um, sauberes Löchlein in der Schläfe. Aber Jonny tat nichts dergleichen. Er schwieg und sinnierte seinen Gedanken nach, tastete nach Irmis kalter, schweißfeuchter Hand und tätschelte sie wie ein Sohn die Hand seiner Mutter liebkost. Plötzlich stand Bernie in der Tür, ein Tablett vor sich her tragend, darauf das schöne alte Porzellankaffeekännchen, oh du süße Erinnerung an eine lange vergilbte Kindheit, die dazugehörige Tasse auf der
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