Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
sie reibt sich die Augen, trinkt den letzten, längst erkalteten Schluck Kaffee, ruft ihrer Kollegin Simone »Ich hätte grad Lust, von einem hübschen Mann sexuell belästigt zu werden« zu, Simone kreischt lüstern und ordinär, ja, das habe sie immer, aber die hübschen Männer kauften halt nur bei NETTO und PLUS.
Auch Oxana bewegt sich wieder. Trinkt. Steht auf. Sagt sich: so. Sie geht, am Dichterstübchen vorbei, wo es verdächtig still geworden ist, zu Sonjas Schlafzimmer, öffnet die Tür, sieht der immer noch Schlafenden ins unruhige, von einer Haarinvasion halb eroberte Gesicht. Sie wird sie gleich wecken.
Wecken. Vika erwacht aus ihrer Langeweile, etwas tut sich, ein Wagen kommt angefahren, bremst vor dem Tor zur Firma ab. Moritz Klein löst sich von der Wand und tut so, als ginge ihn alles nichts an. Der Junge hat keinen Plan, denkt Vika und schüttelt den Kopf.
Auch in Irmis Schlafzimmer schüttelt Jonny den Kopf. Er nimmt die Pistole mit dem Schalldämpfer vom Tablett und sagt bedächtig: »Kennt die deutsche Sprache eigentlich das Wort ‚Henkersfrühstück’?« Jonny lacht und sagt: »Nö. Oder?« Der Dichter lacht nicht. Es muss weitergehen. Weg mit der Alten oder Gnadenfrist. Mal schauen.
182
Mädchen sind mutiger als Männer
Dem Wagen, der auf das Tor der Firma »Jean-Pierre Pacques & Cie. – Marchandises« zugefahren und davor zum Stehen gekommen war, entstieg ein dunkelhäutiger Beifahrer, Anfang 30, groß, muskulös. Er ging auf Moritz zu, redete ihn an, Moritz antwortete, beide gestikulierten, das Gespräch wurde hitzig. Vika, den Rücken gebeugt in ihrem Müllcontainerversteck, lugte vorsichtig über den Rand. Sie war zu weit entfernt, fünfzig Meter vielleicht, sie ver stand kein Wort, hörte nur, dass die Stimmen lauter wurden. Dann stieg der Fahrer aus. Nicht ganz so dunkel wie sein Freund, Typ Maghrebiner, auch Anfang 30, geschätzt.
Idiot, dachte Vika, einfach so rumzustehen in einer menschenleeren Gegend. Oder Absicht? Sollte der Bursche den Mumm besitzen, sich freiwillig in die Höhle des Löwen bitten zu lassen? Nun ja, »bitten«. Die beiden Jungs nahmen Klein nun zwischen sich, jeder packte einen Arm des Detektivs. Gleichzeitig wurde das Tor geöffnet, ein Männchen, schon älter, sehr klein, trat heraus, redete auf den Maghrebiner ein, der antwortete laut und wortreich. Das Männchen zuckte mit den Schultern, ging zum Wagen, setzte sich hinein, der Wagen fuhr durch das Tor, das Trio mit dem leicht widerspenstigen Moritz in der Mitte folgte. Das Tor wurde geschlossen, Ruhe kehrte ein. Hm, dachte Vika, und jetzt? Sie nahm ihre Handtasche hoch, öffnete sie, sah hinein. Nahm etwas heraus, das nicht nur wie eine Pistole aussah. Ließ das Magazin in die Handfläche rutschen. Kurzer Blick, gefüllt. Sie steckte die Waffe zurück, richtete sich auf, schritt auf das Tor zu.
Kurzer Blick, gefüllt. Aber nicht mehr mit Angst. Irmi hatte einfach die Faxen dicke. Sie liebte es nicht, in ihrer Wohnung überrascht und gestört zu werden, freute sich schon auf die Leute von der Volkszählung. Denen würde sie etwas erzählen. Jonny und Bernie waren nicht besser. Der eine saß auf dem Bettrand, eine Hand auf Irmis Linker, in der anderen die Pistole, durch den Schalldämpfer ein aufdringliches und verräterisches Penissymbol, nein, ein Penisersatz. Bernie stand am Fußende des Bettes und grinste. Ruhig richtete sich Irmi auf, entzog ihre Hand der Jonnys, griff mit der Rechten langsam, aber sicher nach der Pistole, nahm sie. Jonny hielt sie nicht fest, fast konnte man meinen, er habe sie ihr gerne gegeben. Das Ding wog schwer. Jetzt bloß nichts Falsches machen, dachte Irmi und richtete die Pistole auf Jonny.
»Oho«, feixte Bernie, »wir sind überrumpelt worden.« »Sieht so aus«, bestätigte Jonny, »Irmi ist einfach zu clever für uns. Und nun? Wollen Sie uns erschießen, Gnädige Frau?« – Scheiße, dachte Irmi, etwas stimmt hier nicht. Erst jetzt sah sie, was sie von Anfang an hätte sehen müssen: Jonny und Bernie trugen dünne durchsichtige Handschuhe. Der Mann auf der Bettkante gluckste, der Mann am Fußende gluckste auch. Jonny entwand Irmi die Waffe, nein, er entnahm sie beinahe zärtlich ihrer Hand, während Bernie in seine Jackentasche griff, etwas hervorholte, eine Tüte, die aussah wie ein Gefrierbeutel. Reichte sie seinem Kompagnon, der nahm sie und bugsierte die Waffe hinein, hob die Tüte hoch, schwenkte sie, erhob sich und sagte: »Danke, Irmi. Deine Fingerabdrücke
Weitere Kostenlose Bücher