Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
fünf von ihnen hingen an einem eisernen Ring. Ich zeigte den Fund Sonja Weber.
»Oh, das sind Georgs Schlüssel! Die beiden Hausschlüssel, die für Keller und Briefkasten, den fünften kenne ich nicht.« Und das war nun wirklich seltsam. Der Vermisste hatte seine Wohnung verlassen, ohne seine Schlüssel mitzunehmen, was heißen konnte, er habe sie nicht freiwillig verlassen. Wie aber kamen sie in die Jackentasche? Wieder etwas, worüber ich grübeln konnte. Ich steckte die Schlüssel ein, Sonja Webers Blick war so bewölkt wie eben beim Teetrinken.
30
Es dämmerte, als ich Sonja Weber verließ. Sie hatte mir, um auf freundlichere Gedanken zu kommen, einige Schwänke aus dem Leben ihres Bruders erzählt, mit dem erwarteten Ergebnis, dass ihr nach zwei Minuten keiner mehr einfiel. Georg Weber hatte als pubertierender Jugendlicher Himbeermarmelade in ein allzu luftig gebackenes Brötchen gespritzt, sein Vater herzhaft hineingebissen und sich übel verkleckert. Das war der Höhepunkt im bisherigen Leben des Verschollenen gewesen, und da an ein zukünftiges Leben aus naheliegenden Gründen nicht gedacht werden konnte, war auch mit weiteren Schandtaten nicht zu rechnen.
Die »Bauernschenke« lag im Dunkeln, doch im Inneren fiel ein Teller zu Boden, eine Frauenstimme schimpfte, eine andere schimpfte zurück. An Montagen öffnete das Etablissement erst um 20 Uhr, wie ich dem Aus hang entnahm. Also trollte ich mich heimwärts, um das nächste Abenteuer seelisch vorzubereiten.
Es ging mir nicht schlecht. In meinem Geldbeutel schlummerte der Gegenwert von fünfzehn heißen Vereinigungen mit Hermine beziehungsweise, unter dem Aspekt des Jugendschutzes betrachtet, der endgültigen Überantwortung von Jonas an den Spielteufel. Ich rief Hermine sogleich an, sie meldete sich mit einem erotischen »Ja?«, und im Hintergrund krächzte Jonas »Telefonsex kostet 10 Euro!«. Einige Minuten lang sagten wir uns schmutzige Dinge, so mochten von Zeit zu Zeit auch die Bundeskanzlerin und Jean-Claude Juncker über Eurobonds parlieren, nur ging es bei uns um essentiellere Angelegenheiten als die Zukunft des Euro. Aber freuen wir uns auf die entsprechenden Wikileaks-Veröffentlichungen.
»Hast du Karl May gelesen?«, fragte Hermine und fuhr, ohne die Antwort abzuwarten, fort: »Das Buch da, wo die Männer ihre Stangen immer in den tödlichen Sumpf stecken müssen, damit man sich nicht verirrt und in den Vertiefungen verschwindet.«
»Ja«, antwortete ich, »Karl May war schon eine Quadratsau. Nichts wie feuchte Niederungen und Stangen jeder Art, darüber hat mal ein Typ ein dickes Buch geschrieben, über die erotischen Landschaftsbeschreibungen bei Karl May und so.« Das hatte Hermine noch nicht gewusst, ich versprach ihr, das Buch unter den Christbaum zu legen.
Wir unterhielten uns zudem über die Möglichkeit, deutsche Soldaten mitsamt ihren Ehefrauen und Freundinnen an den Hindukusch zu schicken, wo doch der Verteidigungsminister auch nicht ohne seine Angetraute mehr außer Haus schlafen durfte. »Hat es übrigens früher schon mal gegeben«, belehrte ich Hermine, »im Dreißigjährigen Krieg und so, da sind die Familien mit ihren Soldatenmännern aufs Schlachtfeld gezogen und haben nach getaner Arbeit die Leichenteile weggeräumt.« Bei »Leichenteile« assoziierte Hermine sogleich eine größere Sauerei, was ich in Anbetracht der Vorweihnachtszeit unpassend fand, aber nicht sagte.
Als Jonas lauthals auf fünfzehn Euro erhöhte und damit drohte, widrigenfalls das Jugendamt einzuschalten, machten wir Schluss. Es war an der Zeit, ins Industriegebiet zu fahren, um Regitz und Borsig bei einer Arbeit zu helfen, von der ich mir keine Vorstellung machen konnte. Mir war am Morgen nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Wir hatten hart gearbeitet, sauber und schnell, uns gewohnheitsmäßig prostituiert, ohne Widerworte und Zwischenfälle. Ich war gewillt, mich überraschen zu lassen.
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Wieder fuhr ich mit der S-Bahn hinaus ins Industriegebiet. Allerhand Volk, wie es schon in der Bibel heißt, fläzte sich auf den schäbigen Sitzgelegenheiten oder baumelte als Fleischerhaken an den Haltegriffen, ehrlich ermüdete Bewohner der Vororte und Nachtschichtler, denen der wenige Schlaf des helllichten Tages monotone Dramen in die Gesichter geschrieben hatte.
Hinter mir babbelte es zungenflink, zwei Mädchen, die sich als Arzthelferinnen-Azubis outeten und Blutwerte diskutierten, dann nahtlos zu den Abenteu ern des verflossenen Wochenendes
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