Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
hat der Chef letzte Woche flottgemacht. War nicht schwer. Alle Studentinnen haben einen Vaterkomplex, musste wissen. Und die Anja besonders.«
Jetzt wusste ich es.
Meine sauer verdienten zwanzig Euro mussten sofort in Lebensmittel investiert werden und so begab ich mich nach kurzer S-Bahn-Fahrt zum Sozialdiscounter ARIANE. Hier konnten Waren zum halben Preis erworben werden, ARIANE galt auch als der Discounter mit der schnellsten Kundschaft, denn wer zu langsam war, erreichte die Kasse unter Umständen erst, wenn das Haltbarkeitsdatum der Produkte abgelaufen war.
ARIANE verfügte merkwürdigerweise auch über eine Miederabteilung, in der verführerische Dessous der Marke NORA feilgeboten wurden. Eine Art Musenfalle, konnte doch hier, wie es in der Werbung hieß, die Erstausrüstung für den Ausstieg aus dem Prekariat erworben werden, Edelkokotte, ein Beruf mit Zukunft, gewissermaßen, in dem sich die Leistungsträger an den Reizwäscheträgerinnen abarbeiten konnten.
Mein Guthaben war bis auf einen Fünfer aufgebraucht, das Wetter immer noch indiskutabel. Ich trug meine Einkäufe nach Hause und kam an Jürgens Bioladen vorbei, wo mich ein paar Mandarinen orangen anlachten. Jürgen stand, wie fast immer, hinter der Theke und las in einem Krimi. Mein Erscheinen riss ihn aus der kriminellen Fiktion in die nicht weniger kriminelle Wirklichkeit.
»Mach mal für 3 Euro Mandarinen«, sagte ich sanft, denn laute Töne mochte Jürgen nicht leiden.
»Drei Euro?« Jürgens Gesicht mutierte zum Fragezeichen. »Das sind von jungen Landarbeiterinnen mit Abitur handgepflückte, selbstverständlich ungespritzte und nicht genmanipulierte Mandarinen. Ok, ich pack dir zwei Stück ein, weil du es bist.«
Daheim. Die Arbeit hatte mich ermüdet, ich nahm ein heißes Bad und plante die nächsten Schritte. Ich würde meine Auftraggeberin be- und die Wohnung ihres Bruders durchsuchen müssen. Dann die Identität des mysteriösen Lothar heraus- und mich zu einem nicht weniger mysteriösen Treffen mit Regitz und Borsig im Industriegebiet einfinden. Fünfzig Euro verdienen, was es mir ermöglichte, ein paar Glühwein in der »Bauernschenke« zu trinken. Warum, wusste ich nicht.
Ich kochte mir Kaffee, aß hastig von dem Brot, das ich mir bei ARIANE gekauft hatte und dessen Haltbarkeitsdatum gerade dabei war abzulaufen, ich kaute hastig und verlor das Rennen um Haaresbreite. Griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Sonja Weber. Sie nahm sofort ab, als hätte sie auf meinen Anruf gewartet.
28
Sonja Weber öffnete die Tür. Sie sah aus wie eine Buchhändlerin, also nicht die Tür. Ein, wie Karl Lagerfeld sagen würde, dezentes dunkelbeiges Kostüm, das wie der von ihm leider verdeckte Körper auf bequemen Slippern transportiert wurde, die Frisur mit Spangen und Haargummis auf Teepartyniveau ge bändigt, der Gesichtsausdruck - und deshalb wähnte ich mich für Momente in einer Buchhandlung – von jener inneren Ausgeglichenheit, die man empfindet, wenn man gerade einmal NICHT Thilo Sarrazin oder Rosamunde Pilcher verscherbelt hat, sondern einen seit Jahrzehnten im hintersten Regaleck vor sich hin staubenden Gedichtband.
»Schön, dass Sie da sind«, lächelte mich Sonja Weber an, und ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass sich jemand über mein Erscheinen gefreut hat (Hermine und Jonas ausgenommen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), jedenfalls konnte ich nicht anders und lächelte zurück. Von dieser Frau hätte ich auch den neuesten Krimi von Dieter Paul Rudolph gekauft, aber der erscheint ja erst im März.
Das Wohnzimmer, in das mich Sonja Weber nun dirigierte, war ein Bürgertraum in Buche und Fichte, alles furniert. Die Schrankwand »Wallander« dominierte den Raum, man konnte auf der Couch/Sessel-Kombination »Stieg« Platz nehmen, die sich um den Tisch »Wahlöö« gruppierte, der wiederum auf einem Teppich »Sjöwall« stand, desgleichen die Zeitschrif tenablage »Marklund«. Auf »Wahlöö« war, mit der Tischdecke »Dahl« unterlegt, das gute Geschirr »Martin Beck« aufgelegt worden, dieses wiederum trug exklusiven Kuchen der hiesigen Kultkonditorei Lahmnagel und Tochter. Tee und Kaffee dampften in formschönem Porzellan. Nicht schlecht für eine Frau, die gestern noch den Fund eines Eurostücks für einen Sechser im Lotto gehalten hätte.
»Tja«, lächelte Sonja ein wenig verlegen und bat mich, in einem der Sessel zu versinken, »ich habe mir etwas gegönnt. Und das hat seinen Grund.«
Sie ging zum
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