Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
Sportwagen oder der Drahtesel.
Das Tor öffnete sich automatisch, ohne dass Honig hätte aussteigen müssen. »Freundlicher als bei der Gebhardt«, murmelte Oxana. Honig stellte sein Auto – einen ansonsten an diesem Ort völlig deplatzierte Nissan – neben Untertürkheimer Extraklasse mit Stern ab, die Plastiktüte in der Hand, dem aus allen Öffnungen leuchtenden Palast zu. Ich stieg aus, benahm mich wie ein nächtlicher schlafloser Spaziergänger, strolchte am Tor vorbei und las auf dem Messingschild den Namen des Hausherrn in gediegenem Sütterlin: »Bruggink«.
»Hol einen Lap aus dem Kofferraum«, wies mich Oxana an. Ich tat es und die auf sämtlichen Tasten virtuose Kasachin klickte uns ins Web. Bruggink. »Das ist er. Dr. Dr. Mathis Bruggink, Generalkonsul a.D.« Dr. Dr.? Der Mann schien ein großes Herz für Ghostwriter zu besitzen.
Es leuchtete nicht nur im Brugginkschen Palast, es redete auch. Wir hatten die Fensterscheiben nach unten gekurbelt, genossen die frische Luft ebenso wie den Tuschelteppich, der uns entgegenflog wie orientalischer Bodenbelag, wir hofften, es säßen keine flüchtigen arabischen Potentaten darauf. Verstehen konnten wir natürlich nichts, nicht einmal ein Lachen webte sich ein. »Smalltalk«, diagnostizierte Oxana und zog ihre Schminkutensilien aus der Handtasche auf der Rückbank. Ich beobachtete fasziniert, wie dunkelroter Lippenstift aufgetragen, wie die Wangen abgetupft und die Augen dunkelblau betont wurden, Dinge allesamt, die uns Männern vorenthalten bleiben, na ja, den meisten von uns jedenfalls.
Als sie fertig war, atmete Oxana einmal kräftig durch und öffnete die Wagentür, sagte »so«. Bevor ich wusste, was geschah, stöckelte sie auch schon dem Tor des Brugginkschen Protzhauses zu, drückte auf den Klingelknopf und wurde eingelassen.
107
Schlimm genug, wenn man von einer Frau wortlos verlassen wird. Schlimmer, wenn fünf Minuten später die Standheizung streikt, obwohl sie mit den Lokführern nicht solidarisch ist. Aber am schlimmsten: Ich musste dringend pinkeln und wusste nicht wo.
In diesem Millionärsdorf gab es weder diskrete Büsche noch dunkle Ecken. Die Straßenlampen glühten im Zehnmeterabstand, als sei Energieverschwendung eine populäre Sportart, die Alleebäume waren gewachsen wie Topmodels, für die gewiss zahlreichen Hündchen standen überall Bonsaibäumchen bereit, um sich duschen zu lassen. Von den Videokameras, die in Legionen ihre Augen auf alles fixierten, was sich bewegte, gar nicht zu reden. Nein, dies war kein Platz für Blasenschwäche.
Ich zerkaute Oxanas letzte Fleischbällchen, den Laptop auf den Knien, die sich nicht entscheiden konnten, warum sie zitterten, aus Gründen von Arsch kälte oder frech revoltierendem Urin. Was hatte sich Oxana eigentlich gedacht? Keine Frage, sie war gekleidet, als habe sie geahnt, dass eine exklusive Gesellschaft auf sie wartete. Und – nur geahnt oder gewusst? Konnte ich ihr überhaupt trauen? Der Stachel des Misstrauens bohrte sich mir durch Seele und Leib. Oder war diese Aktion ein weiteres Beispiel für das von Hermine dem weiblichen Geschlecht zugeordnete Bauchgefühl? Und was für Bäuche mussten das sein, so ganz andersartig als die unseren? »Weiber«, pfiff ich giftig durch die Zähne. Der Unterleibsdruck nahm zu, wurde unerträglich, ich würde gegen Marxers Auto pissen müssen, der Gedanke gefiel mir und ich trank die Weinflasche aus, damit es sich lohne.
So litt ich, als ein knallblauer Lieferwagen vor dem Tor hielt und nach kurzer Frist eingelassen wurde. »Jürgens biodynamische Partyware«, aha, mein Freund Bio-Jürgen, und tatsächlich stieg er leibhaftig aus und begann, mit Alufolie abgedeckte Platten ins Haus zu schleppen, was ihm auf diese Weise eine tragende Rolle in dieser Geschichte verschaffte. Kein Zweifel, hier ernährte man sich vollwertig und gesund, echtes Schrot und Korn eben, und beim Gedanken an Jürgens legendäre Shrimps aus eigener Badewannenzucht mit fair gehandelter Mayonnaise lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Etwa zwanzig Minuten, nachdem Oxana die Villa – nennen wir das unglaubliche Gebäude mal so – betreten hatte, trat Honig aus derselben. Ohne die Plastiktüte, dafür mit einer jungen Frau, einem Mädchen eigentlich, das unübersehbar ein Kaugummi in seinem kaum siebzehnjährigen Mund malträtierte. Die Kleine wirkte, wie alle ihre Altersgenossinnen, höchst gelangweilt, was der einzig mögliche Gemütszustand an der Seite Honigs sein konnte, von
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