Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
tanzten einen Sirtaki, hielten sich an den ausgestreckten Oberarmen, kreisten um die Paläste, in denen neue Armut kreiert wurde. Rauch. Kameraschwenk. Ein offenes Feuer, das sich von Papier ernährte. Nahaufnahme. Es waren Geldscheine, Euroscheine.
Der Krimistammtisch rüstete zum Aufbruch, „Zahlen bitte!“. Gute Stimmung, niemand war durch die Prüfung gefallen, alle hatten Hoffnung auf das „Diplomkrimileser"-Zertifikat, mit dessen Hilfe neue Karrieren als Amazon-Rezensent möglich werden würden. Zudem hatte man sich angeregt ausgetauscht, sich gegenseitig heiße Tipps zugeflüstert. Was das alles wieder Geld kosten würde!
„Tja, tote Hose“, unkte Marxer und schaute dabei wie zufällig auf seinen Schoß. In seinem Gehirn war es dafür umso lebendiger. Plots erblickten im Minutentakt das Licht der Welt, hochpolitische Krimis, für das Lesevolk mit allen Ingredienzien des Genres genießbar gemacht. Bankenkrise und Geschwistersex, Eurodebakel und Fußballwettskandal, das unausweichliche Rentenfiasko und hübsch drapierte Leichenteile auf dem Frühstücksbüffet des Seniorenheims. Die Konsumenten würden jauchzen.
Und diese Idioten vom Stammtisch hatten ihn schon wieder nicht erkannt! Hatte seinen Namen doch oft genug und laut genug genannt. „Tja, wenn man wie ich Marxer heißt und Krimiautor ist...“ Das nächste Mal würde er seine Bücher mitbringen und ganz diskret vor sich auf dem Tisch aufbauen. Skandal, das. Und so etwas nannte sich „Volkshochschule“. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu, den tanzenden Griechen mit ihrem Geldvernichtungsfetisch.
„Houston, wir haben ein Problem“, bekannten die Wirtsschwestern. Das leckere Essen nämlich. Die erwarteten Gäste waren ausgeblieben, neue, unerwartete nicht gekommen. Sollte man alles einfrieren? Ging wohl nicht anders. Borsig hielt es nicht mehr aus. Er musste eine rauchen, was ja nur noch in der Arschkälte vor der Wirtschaft möglich war, wo der Heizpilz ernsthafte Erfrierungen verhinderte. „Kommt jemand mit?“ Kopfschütteln. Also stand er alleine auf, öffnete die Tür, trat ins Freie, hauchte sogleich einen Schwall eisigen Atems aus sich hinaus, hatte die Kippe schon im Mundwinkel, klickte auf das Feuerzeug. Aaaaaah!
Borsig schloss die Augen und genoss. Öffnete sie und wurde misstrauisch. Stille. Nein, keine Stille, eine andere Art von Tönen, nicht die der Nacht in diesem Teil der Stadt. Nirgendwo mehr brannte Licht, sogar die Straßenlaternen waren erloschen, nur der Mond und der Schnee verhinderten die Stockdunkelheit. Und was hörte man? Es war wie ein einziges hastiges Atmen. Borsig fröstelte. Er sah dem Schnee beim Fallen zu, zog hastig an der Kippe, unterdrückte den Wunsch, sich sofort eine zweite anzustecken, Nikotinmissbrauch auf Vorrat. Etwas näher an den Heizpilz, ein bisschen aufwärmen, schnell wieder rein ins Warme. Es lief ihm kalt über den Rücken und er wusste nicht warum.
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Die Bundeskanzlerin knallte ihre Handtasche auf den Tisch, so dass dieser erzitterte und alle Herren, die an ihm Platz genommen hatten, mit. Die erste Frau der Republik war schlecht gelaunt, erzürnt, wütend, die Dinge verselbständigten und verkomplizierten sich, mäanderten planlos, ziellos, die Presse schüttete Eimer mit Häme über der Regierung aus – und ihr kleiner Franzose dachte nur an die nächsten Wahlen und die bevorstehende Niederkunft seiner Frau, was beides zusammengehörte.
Ich habe noch nie gehört, dass sie „Leckt mich doch alle am Arsch“ gesagt hätte, dachte Kriesling-Schönefärb und schaute auf die Tischvorlage. Thema: Es geht um alles. Oder: Alles geht grad fröhlich den Bach runter. Oder: Der Bach ist längst ein reißender Strom und kein Mensch kann schwimmen. Und diese Frau, dachte Kriesling-Schönefärb weiter, flucht nicht einmal, sie knallt ihre Handtasche auf den Tisch, ihre Handtasche, in der sie die Handakte mit den Staatsgeheimnissen verstaut hat wie andere ihre Lippenstifte, Wimperntuschen, Papiertaschentücher.
Doch auch diese winzige Gefühlswallung ebbte sofort wieder ab. Die Bundeskanzlerin lächelte. Nickte spitzbübisch in die Runde, die sofort spitzbübisch zurücklächelte und bat den Finanzminister, die Anwesenden auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. „Ja“, sagte der Finanzminister und nestelte an seiner Brille. „Der Franzose zickt noch. Der Luxemburger verliert die Nerven und diskreditiert uns in aller Öffentlichkeit. Der Grieche hält die
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