Die Ehre der Am'churi (German Edition)
Meine Hand ist gebrochen, von unserem Spaziergang am Wasserfall. Der Rest ist einfach nur Erschöpfung und Blutverlust.“
Ohne auf die schwachen Proteste zu achten, ergriff Jivvin die gefesselte Hand seines Gefährten und schob die Eisenschelle soweit zurück, wie es möglich war. Das Gelenk war angeschwollen, blau-schwarz verfärbt, dazu blutig aufgeschürft. Überall, soweit Jivvin sehen konnte, war Ni’yo zerschrammt, auch seine Füße waren noch lange nicht verheilt. Anscheinend waren seine Wunden so vielfältig, oder die Erschöpfung tatsächlich zu tief, als dass seine gewöhnlichen Heilfähigkeiten wirken konnten.
„Was hältst du davon, wenn wir uns einen der tausend Flüsse hier suchen, eine Runde angeln, uns den Bauch mit Fischen voll schlagen und dann schlafen gehen?“, schlug er vor.
„Jivvin, bis jetzt hatten wir Glück mit dem Wetter. Es kann jeden Tag umschlagen. Ohne Ausrüstung sieht es schlecht aus, wenn wir in einen Sturm geraten oder es nachts zu frieren beginnt.“
„Das weiß ich! Wenn du so halb tot bist wie jetzt, wirst du auf jeden Fall draufgehen. Diskutier nicht mit mir, klar?“
Zu seiner Überraschung fügte sich Ni’yo stumm. Nein, es war offensichtlich, dass auch dieser Am’churi Grenzen besaß und sie erreicht hatte. Eigentlich war das ein beruhigender Gedanke…
19.
Das Gelände wurde abschüssig. Sie stiegen mit höchster Vorsicht ein Geröllfeld hinab, das in einen Talkessel mündete. Unter ihnen, rechter Hand, erstreckte sich eine wilde, aufgeworfene Felslandschaft, durchzogen von schäumenden Bächen, die sich machtvoll ihren Weg durch das Gestein fraßen. Zu ihrer Linken breiteten sich dichte Wälder aus. Einen dieser Wege mussten sie wählen.
„Die Duye-Senke“, murmelte Jivvin. Beide waren schon in diesem zerklüfteten Hochland geklettert, in dem sich eine Klamm an die nächste reihte. Es war tückisches, schwieriges Gelände, vor allem, wenn es in höher gelegenen Gebieten schwer regnete. Sollte man dann noch in Stürme geraten, mussten sich selbst Am’churi in Acht nehmen.
„Lass uns ausruhen, wie du es gesagt hast, Jivvin. Irgendwo in der Nähe muss es einen Fluss geben, ich meine, wir sind hier im Land der Tausend Flüsse! Morgen werde ich sicherlich die Kraft für die Duye aufbringen“, sagte Ni’yo.
„Unmöglich! Es wäre selbst dann schon Wahnsinn, wenn wir nicht wie zwei Esel aneinander gekettet wären. In manchen dieser Schluchten ist kein Platz für zwei Männer gleichzeitig. Wir sind beide nicht gut dran, um es vorsichtig auszudrücken. In der Duye gibt es kaum Wild und außer Moosen nichts zu sammeln. Du magst ja damit zufrieden sein, lediglich einmal pro Monat zu essen, ich brauche ein wenig mehr! Nein, wir nehmen den sicheren Weg.“ Entschieden wies Jivvin auf den Wald, der sich bis zum Horizont unter ihnen ausbreitete.
„Das ist ein Umweg, wir würden mindestens fünf Tage brauchen, bis wir das nächste Dorf erreichen! Durch die Duye könnten wir in zwei Tagen nach Bewo gelangen, uns dort trennen lassen und den restlichen Abstieg mit Leichtigkeit schaffen“, widersprach Ni’yo hitzig.
„Ich klettere mit dir nicht in die Senke, sieh es ein! Lieber ertrage ich dich noch drei Tage und Nächte länger als mir in irgendeiner Klamm den Schädel einzurammen!“
„Je länger es dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Herbststürme beginnen. Vielleicht schaffen wir es dann gar nicht mehr vor dem nächsten Frühjahr, nach Hause zurückzukehren“, beharrte Ni’yo trotzig. Er wusste, Jivvin hatte Recht, es war Selbstmord, unter diesen Umständen in die Duye zu steigen. Als er frei und unverletzt gewesen war, hatte er die Kletterei genossen, aber selbst da hatte es riskante Augenblicke gegeben, in denen er nur mit den Fingerspitzen über einer Schlucht gehangen und sich langsam vorwärts gekämpft hatte… Im Moment war er aber noch nicht gewillt, den Streit zu verlieren.
„Wenn wir tot in einer Klamm liegen, können wir gar nicht mehr zurückkehren. Drei Tage Gewinn sind einfach zu wenig, um das Risiko …“
Plötzlich warf sich Ni’yo auf ihn und riss ihn zu Boden, so unvermittelt, dass Jivvin keine Gelegenheit zur Gegenwehr hatte. Der Schock darüber war so tief, dass es drei volle Herzschläge dauerte, bis er den Pfeil bemerkte, der genau dort im Felsen steckte, wo zuvor sein Kopf gewesen war. Ni’yo schirmte ihn mit seinem Körper ab, aber nun hörte auch er die Stimmen zahlreicher Elfen. Der Streit hatte sie so
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