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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Stock, seit neun Jahren. Allerdings war ich öfter bei ihm als bei mir. Angefangen hat unsere Freundschaft mit dem Joggen. Wir sind uns ein paar Mal wortlos im Treppenhaus in Sportsachen begegnet, ehe wir über Zeiten und Distanzen redeten und feststellten: Wir laufen beide die knapp zehn Kilometer bis Norddeich Mole und wieder zurück in 42 Minuten und 30 Sekunden.
    Seitdem joggten wir gemeinsam und verbrachten im Sommer den Rest des Tages auf seiner Terrasse. Manchmal auch die Nacht, jeder in einer Hängematte, und redeten uns in den Traum. Wir waren kein Paar. Wir waren nur befreundet, auch wenn die Nachbarn etwas anderes vermuten.
    Erichs Wohnung im vierten Stock ist sein Eigentum. Die anderen drei Stockwerke sind vermietet. Jedem Mieter, auch mir, steht zur persönlichen Nutzung ein Balkon zur Verfügung, der nicht viel größer als eine Schublade ist. Jeder im Haus hat Erich um diesen Traum von einer Dachterrasse, die nicht viel kleiner als ein Schrebergarten ist, beneidet. Nicht nur ich.
    Nun wird es unten laut. Sirenen. Türenschlagen. Stimmen. Hupen. Durcheinander. Nur ein Teil der beunruhigenden Geräusche dringt bis zu mir hinauf. Die einen trägt der Wind auf dem Weg nach oben fort, die anderen verschlucken die Zypressen, die mannshoch in Kübeln entlang der Brüstung stehen.
    Ich lasse mich auf Erichs Schaukelstuhl nieder, lehne mich zurück und gebe langsam Schwung. Die Kufen knirschen über die Fliesen. Eukalyptusholz auf Terrakottafliesen. Auf dem runden Tisch neben mir stehen noch unsere beiden Gläser und die Rotweinflasche. Da liegt das Besteck auf den Servietten. Ich berühre nichts, so gern ich mir nachgeschenkt hätte. Gerade jetzt.
    Ich betrachte die Dachterrasse, als sähe ich sie zum ersten Mal. Bis auf die Zypressen wächst hier nichts mehr. Erich hatte keinen grünen Daumen. Bevor er das einsah, gab er ein Heidengeld für immer neue Pflanzen aus, die über kurz oder lang vor unseren Augen elend verendeten. Ertränkt oder vertrocknet, zu Tode gedüngt oder geschnitten. Vielleicht war es auch, weil er mit ihnen sprach.
    So wie er mit mir immer sprach. Wäre er noch hier oben, hätte er mich jetzt gefragt, warum es unten nur so lärmt. Selbstverständlich ohne hinabzusehen, hätten wir Vermutungen angestellt. Hatte sich etwa jemand aus dem Fenster gestürzt? Oder vom Balkon? War jemand hinuntergestoßen worden? Wenn ja, wer war es wohl? Und von wem? Und warum? Hypothesen. Phantasien, die besonders während der gemeinsamen Mahlzeiten blühten.
    Erich war auch kein guter Koch. Seine Küche war klein und ein bisschen langweilig. Aber ich habe mich nie beschwert. Ihm auch nie Ratschläge gegeben, auch nicht, was die Botanik anging. Wenn es nach mir ginge, wenn ich dürfte, wie ich wollte, wäre die Küche italienisch und die Dachterrasse ein Park gewesen. Aber ich war nur der Besuch.
    »Wenn ich einmal tot bin«, hat er mehr als einmal gesagt, »dann kannst du meine Wohnung haben und hier machen, was du willst.« Vielleicht hätte er das nicht sagen sollen.
    Ich versinke in Erinnerungen und beginne zu rechnen. Wie viele Vollmondnächte hat ein Jahr? Zwölf bis dreizehn, das schwankt, wenn ich nicht irre. Seit wie vielen Jahren wohne ich hier? Ich komme auf die unglaubliche Zahl von 108 Vollmondnächten. Das kann nicht sein. Ich beginne von vorne zu rechnen. Es bleibt bei 108 Nächten. Inklusive heute. 108 ist eine gute Zahl.
    Am Anfang fand ich seine Vorstellung noch amüsant. Es war eine Augustnacht. Ich war seit genau siebenundzwanzig Tagen sein ständiger Besuch. Wir dösten in unseren Hängematten, als er sagte: »Morgen ist der Sechzehnte.«
    »Na und?«
    »Morgen ist Vollmond«, erklärte er bedeutungsschwer.
    »Von mir aus«, antwortete ich. Der Mond bedeutete mir damals noch nicht viel.
    Nächster Abend, gleiche Kulisse. Erich betrat feierlich die Dachterrasse, schritt wie ferngesteuert am Tisch vorbei, Kinn in die Höhe, Blick in die Ferne, die dampfende Auflaufform auf Armeslänge vor sich hertragend wie eine Opferschale. Seine Hände steckten in knallbunten Topfhandschuhen, seine Bistro-Schürze und seine Schuhspitzen waren bekleckert. Ein Duft umgab ihn, der mir bekannt vorkam. Er weckte Kindheitserinnerungen. Ich rief ihm etwas zu. Er war nicht ansprechbar.
    Er marschierte in Richtung Vollmond und wurde nur durch das Eisengitter auf der Brüstung davon abgehalten weiterzugehen. Zwischen zwei Zypressen hielt er an, präsentierte dem Vollmond die dampfende, blubbernde Masse und

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