Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
Notarzt und Passanten, Verkehrsstau.
In diesem Augenblick stoße ich einen durchdringenden Schrei aus. Er ist so markerschütternd, dass ich selbst vor mir erschrecke. Sein Echo entfaltet sich wie breites Band über die Dächer von Norden.
Die Resonanz ist entsprechend. Unten sehen alle hoch zu mir, alle Finger zeigen auf mich. Jeder bei uns im Haus und in den Häusern nebenan hat schon mindestens einmal gesehen und vor allem gehört, was Erich in Vollmondnächten hier oben veranstaltete. »Eines Tages fällt er noch runter«, hat mancher geunkt. Bemerkungen wie diese sind Wegbereiter.
Im Laufschritt eile ich - immer noch barfuß - zur Wohnungstür und stürze die Treppen hinunter. Zwei Stufen auf einmal. Ich muss aufpassen, dass ich auf dem glatten Stein nicht ausrutsche. Unten reiße ich die Haustür auf und beginne im gleichen Augenblick wieder mit der Schreierei, bei der ich mich dieses Mal in Lautstärke und Tonhöhe eher an den Gesängen orientalischer Klageweiber orientiere.
Von Erich und dem Kohlpudding ist nicht viel mehr übrig geblieben als ein großer feuchter Fleck und ein paar Scherben. Gerade fährt der Leichenwagen davon. Ich bahne mir einen Weg durch die Menge, folge dem erleuchteten Kreuz in der Heckscheibe mit ausgebreiteten Armen und rufe mehrmals: »O Gott! Nein! Bitte nicht!«
Ich habe vor zu laufen, bis ich zusammenbreche. Das kann bei meiner Kondition eine Weile dauern. Oder bis mich jemand aufhält. Aber das tut niemand. Lieber bildet man eine Gasse. Habe ich schon gesagt, dass bei uns in Norden nachts nichts los ist?
Ich bin die Attraktion der Nacht. Ich laufe wie Nurmi persönlich, große, leichte, nicht ermüdende Schritte. Dass ich in der Aufregung zu spät bemerke, dass mein Bademantel sich vorn öffnet und mehr von meinem noch feuchten, nackten Körper zeigt, als die Polizei erlaubt, nehme ich in Kauf. Mit einer gewissen Befriedigung sogar. Ich habe auch deswegen Jahre meines Lebens mit Joggen verbracht, um mich im entscheidenden Moment meines Körpers nicht schämen zu müssen.
Die Anwältin, die mit der Testamentseröffnung betraut ist, heißt Theresa van Dobben. Als sie mir mitteilt, dass Erich mir tatsächlich seine Wohnung samt Dachterrasse vererbt hat, freue ich mich wie ein Kind, das sein Geschenk schon kennt, weil es die Schränke seiner Eltern heimlich durchwühlt hat.
Eine Bedingung ist an Erichs Erbschaft gebunden: Kohlpudding soll ich kochen in jeder Vollmondnacht. Mir zuliebe, höre ich ihn mit leiser Erpresserstimme sagen. Aber gerne, denke ich, kochen heißt nicht essen. Und essen, fügt die Anwältin mit spitzem Mund hinzu. Sie wird den Vorgang überwachen. Erich hat an alles gedacht.
Die Vorstellung, diese Frau einmal im Monat auf meiner Dachterrasse sitzen zu haben, missfällt mir. Sie ist klein und dick, enorm dick. Ein unangenehmer Geruch nach ranzigem Parfum umgibt sie. Und mir gefällt die Art nicht, wie sie mich aus den Augenwinkeln ansieht. Ich glaube nicht, dass sie etwas ahnt, ich fürchte etwas anderes. Aber ich nehme die Erbschaft an. Die Dachterrasse ist das alles wert.
In Erichs Küche, die jetzt meine ist, finde ich kein einziges Rezept. Ich kaufe ein Kochbuch, eine neue Auflaufform und die Zutaten. Ich studiere tagelang die Zubereitungsweise und warte in Erichs Wohnung, die jetzt meine ist, auf den nächsten Vollmond.
In der Nacht des 14. Oktober ist es so weit. Die Prozedur geht mir ziemlich locker von der Hand. Zum guten Schluss füge ich ein wenig übermütig aus Erichs Gewürzschrank noch einige Details hinzu. Während die Auflaufform im Ofen steht, decke ich den Tisch für zwei Personen. In Erinnerung an Erich werden wir ein letztes Mal draußen auf der Terrasse essen, auch wenn es schon etwas zu kühl dazu ist.
Im Schaukelstuhl schaukele ich nervös hin und her und warte, dass die dicke Theresa kommt und ich den Kohlpudding aus dem Ofen nehmen kann. Vor die defekte Stelle im Eisengitter habe ich eine Zypresse platziert. Die Eisensäge habe ich selbstverständlich längst entfernt.
Theresa kommt. Ich führe sie auf die Dachterrasse, ziehe mich in die Küche zurück und beobachte sie durch das Fenster. Kaum hat sie einen Sessel unter sich begraben, trete ich mit der Auflaufform hinaus und mache, was Erich immer gemacht hat. Schritt für Schritt, Wort für Wort. Mit der Auflaufform in den Händen marschiere ich in Richtung Vollmond, drehe meine Runden, leiere hintereinander die beiden Gedichte herunter und beende die Zeremonie mit dem
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